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Die Gästin

Ach, ein herrlicher Sommertag. Ich wollte ins Schwimmbad, aber erst noch ein üppiges Frühstück. Also setzte ich mich an den Frühstückstisch, beschmierte mein Butterbrötchen, darauf einen Klacks meiner Lieblings-Himbeermarmelade – ein Geburtstagsgeschenk von Oma – und das frisch gekochte Frühstücksei ließ ich noch ein bisschen abkühlen. Den Salzstreuer hatte ich vorsichtshalber schon auf den Tisch gestellt, dass ich während des Frühstücks nicht aufstehen müsste, um ihn zu holen. Blendend gelaunt wollte ich den Tag beginnen. Dann erwachte in mir die Neugier, was denn in der Welt so alles los sei. Fernbedienung her, Richtung Radio gehalten und Welt, sprich, was hast du für Nachrichten? Wo gibt’s Kriege, neue Filme, Korruptionsenthüllungen oder Todesmeldungen von Politikern oder Persönlichkeiten, die ich alle nicht kenne?
Da geschah etwas, was mich spontan entsetzte. Anfangs glaubte ich, nicht richtig zu hören. Da sagte eine Moderatorin allen Ernstes: „Ich begrüße heute als meine Gästin …“
Ich weiß nicht, wen sie als Gästin begrüßte, denn ich konnte nach der Nennung des Begriffs „Gästin“ nicht mehr zuhören. Meine Ohren schalteten auf Spontanhörsturz und in meinem Kopf nahm ein Kettenkarussell verwirrender Gedanken die Rundfahrt auf. Gästin! War es jetzt doch schon so weit gekommen?
Ich erinnere mich noch an einen Witz vor zehn Jahren: Da sitzen zwei Feministinnen am Frühstückstisch. Sagt die eine zur anderen: „Du, reich mir doch mal bitte die Salzstreuerin!“
Was haben wir damals über diesen Witz gelacht! Und nun wird im Radio eine Gästin interviewt. Hilfe, was wird da mit meiner Mutter/Vatersprache*in gemacht? Was steht eigentlich auf Sprachverhunzung? Kommt man da noch mit einer Geldstrafe davon? Für mich ist das Maß voll.
Natürlich ist die Sache mit der gleichen Augenhöhe korrekt. Mann und Frau sind – und das ist ein Naturgesetz – gleichberechtigt! Aber Sprache ist doch was Gewachsenes. Und die Sprache erzählt doch auch etwas über Geschichte, über die Herkunft der Wörter.
Wahrscheinlich werde ich auswandern, irgendwie in ein englischsprachiges Land, wo die Artikel der/die/das keine Rolle spielen. Wo alles mit „the“ bezeichnet wird.
Inzwischen war mein Frühstücksei auf Körpertemperatur abgekühlt. Ich schlug es auf, grubbelte die Kalkschale ab, nahm den Salzstreuer in die Hand, stellte aber dann die Salzstreuerin zurück und schwor mir, das Ei erst dann mit Salz zu essen, wenn ich die Frage für mich geklärt hätte, welches Geschlecht das Salzstreuding habe. So lange wollte ich die oder den Frühstücksei ungesalzen verzehren.

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