Corona Sippenhaft
Ich erinnere mich noch genau, als wär es erst vorgestern gewesen. In der großen Schulpause vor 55 Jahren schneite es dermaßen entfesselt, dass wir Schüler der 1. Gymnasialklasse zurecht mutmaßten, dass nach der Schule der Schnee liegen bleiben würde und wir auf dem Weg von der Schule zum Schulbus einige Schneeballschlachten schlagen würden. Aber der staatlich anerkannte Spielverderber und als Moralpädagoge verschriene Schuldirektor stolperte von Klassenzimmer zu Klassenzimmer, hob seinen fetten Zeigefinger und warnte uns vor den Folgen ungehemmten Schneeballherumgewerfes. Er sprach von zerbrochenen Fensterscheiben, hart am Schädel getroffenen Kindern, ja, sogar ein ausgeworfenes Auge zauberte er aus seiner Abschreckungstrickkiste hervor. Und immer wieder der Hinweis auf irgendwelche Versicherungen, die wegen vorsätzlicher Fahrlässigkeit nicht zahlen würden. Wir Schüler nahmen vorschriftsmäßig eine zerknirschte Körperhaltung ein und rüsteten mit einer erschreckten Miene nach. Mein Freund Raimund und ich beschlossen schweren Herzens, bei der Schneeballschlacht nicht mitzumachen. Etwa die Hälfte der Klasse war genau so brav wie wir und trabte schön zum Schulbus, ohne der Schneeballverlockung nachzugeben. Wir wollten nicht auffallen und auf keinen Fall irgend eine Strafe riskieren. Ein paar Draufgänger aber hielten sich an keine Gesetze, warfen mit Schneebällen wild drauflos und hatten ihre Gaudi.
Aber, oh weh, das dicke Ende kam am nächsten Morgen. Mitten in den harmlosen Biologieunterricht – es ging um den Unterschied zwischen Hecht und Karpfen – platzte der eben schon vorgestellte Schulpädagoge mit zwei Ministerialdirigenten oder so herein und störte unser morgendliches gemütliches Beisammensein beträchtlich. Wütend und mit scharlachrotem Kopf stampfte er auf und ging sofort zum Verhör über: Wer war es gewesen? Wer hatte die Schneebälle geworfen trotz des strikten Verbotes? Unsere erschreckten Ohren hörten sogar das üble Wort „Schulverweis“.
Aber jetzt zeigte sich, was junge Rebellen leisten können. Wir hielten dicht, wasserdicht, genauer gesagt schneeballdicht. Alle pädagogisch ausgefuchsten Verhörtechniken prallten an uns ab. Wir waren junge Helden, hielten zusammen und verrieten nichts. Keine Namen, keine Erinnerung, wir hatten nichts gesehen und nichts gehört.
Mitten in unsere Amnesiebekundung traf uns die Strafe wie eine Keule: Eine Stunde kollektives Nachsitzen. Oje, Schockschwerenot! Das warf meinen gesamten Tagesplan durcheinander. Ich würde den Schulbus verpassen und ich müsste meine Eltern anrufen, dass sie mich abholen müssten. Oh, das würde Ärger geben. Oh, das war hart! Oh, das war ungerecht! Ich Unschuldiger müsste die Strafe erdulden, die andere verursacht hatten. Mein Glaube an Gerechtigkeit war zutiefst erschüttert.
Nun fragt sich jede und jeder, die oder der das hier liest: Was soll denn diese in Maßen spannende Jugenderinnerung sagen? Das ist doch Schnee von gestern.
Nachdem ich schon mit dem Erzählen einer kaum spannenden Jugendgeschichte viel Zeit verplempert habe, komme ich jetzt aber zack zack hauruck hopplahopp zum Thema: Nur weil unverbesserliche Partygänger weiter Feste feiern, nur weil exzessive Familienfestefeierer und pubertäre Cliquengänger die Corona Kontaktregeln missachten, werden wir allesamt bestraft. Lockdown für alle! Wahllos und blindwütig wird diese lebensverneinende Eisenfaust auf uns niedergeknüppelt. Ich darf nicht zum Frisör, ich darf nicht ins Schwimmbad, ich darf keinen Mannschaftssport treiben, ich darf nicht ins Kino und auch nicht ins Theater, ich darf nicht in Restaurants und darf in keinem Warenhaus einkaufen und keine Freunde besuchen.
Gibt es denn keine Intelligenz, die einmal durchdenkt, welche Regeln sinnvoll sind?
Also, es müsste ein wirklich kluger Mensch kommen, der ziemlich was in der Birne hat und auch so ein richtig mitfühlendes Herz. Also kein Politiker, der nur auf seinen Posten starrt. Sondern so ein richtig freundlicher Mensch eben. Und dieser freundliche und intelligente Mensch würde einen Plan machen, ohne auf Lobbys oder wirtschaftliche Profit-Interessen einzugehen. Ach ja, und ein Forschergeist wäre dieser ideale Mensch auch. Und er müsste erforschen können, wie viele Menschen sich bis jetzt im Einzelhandel angesteckt haben – nämlich keiner! Oder im Schwimmbad – nämlich schon überhaupt keiner! Oder im Theater – nämlich erst recht schon überhaupt keiner!
Ach, wenn’s diesen herrlichen Menschen gäbe, dann … dann … dann … Halt! Vielleicht bin ich ja dieser Mensch? Ja, genau, jetzt fällt mir’s wie Schuppen von den Augen! Ich bin dieser Mensch. Aber jetzt erscheint mit voller Wucht mein gesamtes Lebensdrama. Nämlich, dass jeder, der das hier jetzt gerade liest, den Kopf schüttelt und sagt: „Nein, du bist nicht dieser Mensch.“
Und genau diese ablehnende Reaktion macht mich fertig, dass mir die Menschen einfach überhaupt nichts zutrauen. Und trotzig, wie ich mitunter bin, schmeiß ich meine ganzen Pandemie-Forschungen in die Mülltonne, verschließe mein mitfühlendes Herz rappeldicht, schraube meinen IQ herunter auf Zimmertemperatur und sage das Gleiche wie alle, die was zu sagen haben: Nämlich nichts!
Konklusion: Wir alle müssen leiden unter unserem Unglauben. Wie lange noch?
Trostlose Charlotte