Tel. 0163 76 55 881
Skip to content

51. Auf und zu

Wieder einmal saßen der Letzte Lehrer und seine wenigen Schüler zusammen. Gemeinsam hatten sie an einem Flussufer Körperübungen gemacht, die darauf zielten, die Gefühle zu beherrschen. Aber der Letzte Lehrer hatte nach einer Weile abbrechen müssen, da einige der Schüler von ihren Emotionen weggeschwemmt worden waren. Sie wollten darüber sprechen und hatten sich zu diesem Zwecke ans Ufer gesetzt.
Nun saßen sie im Kreis und der Letzte Lehrer wartete auf die begeistert gestellte Frage, die er gerne beantworten wollte.
Eine Schülerin fragte: „Wieso kommt es immer wieder zu heftigen Emotionsausbrüchen auf der einen Seite, und auf der anderen Seite verschließen wir uns dann wieder und gehen in den schweigenden Widerstand?“
Der Letzte Lehrer erläuterte: „Es ist sehr schwierig für jeden Menschen, in einer neuen Situation differenziert und angemessen zu reagieren. Um dies zu tun, müssten wir die Situation souverän überschauen und vor allem genau informiert sein über unser eigenes Kräftepotential, das uns im Moment zur Verfügung steht oder aber nicht zur Verfügung steht. Und natürlich müssen wir ein klares Ziel vor Augen haben. Wir müssen unsere eigene Vision kennen. Da uns dies aber viel zu kompliziert erscheint, machen wir es uns leicht: Wir machen entweder total auf oder total zu. Dieses Verhalten stammt aus unserer Kindheit. Damals haben wir uns völlig vorurteilslos in Situationen hineinbegeben, wurden dann entweder harsch abgelehnt oder liebevoll angenommen und haben uns dann dementsprechend völlig verschlossen oder aber völlig geöffnet. In der Kindheit hatten wir hoffentlich Eltern, die uns geholfen haben, uns in die jeweilige Situation intelligent einzufügen. Leider haben aber die Eltern oder andere Erziehungsberechtigte oft mit dem Moralhammer auf uns eingeschlagen, um uns nach ihren Vorstellungen in eine passende Form zu bringen. Heute haben wir leider immer noch diesen kindlichen Drang, uns ganz zu öffnen, dann werden wir verletzt und dann verschließen wir uns ganz. Dies erschöpft uns ungemein und verhindert, dass wir einen entspannten Zugang zum Leben finden. Wir müssen lernen, Zwischenstufen einnehmen zu können.“
Einige der Schüler hatten sich der Rede des Letzten Lehrers ganz geöffnet, andere – und das war die Überzahl – hatten sich ganz verschlossen.

aus: Johannes Galli – Der Letzte Lehrer – 108 Momente der Weisheit | Kurzgeschichten | Freiburg 2009 | S. 113 – 114  | © Galli Verlag e.V.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Man muss ja nicht gleich die komplette Beleuchtung anmachen, wenn man sich (selbst) kennenlernen will, sondern erst eine Kerze anzünden, später dann noch eine und dann noch eine…
    LG Manu

  2. Ja oft machen wir uns ganz zu. Schön fände ich dabei allerdings, wenn wir vorher nicht noch mächtig austeilen würden. So zu sagen aus Selbtverteidigung. Denn damit kreieren wir ja nur weitere Zumacher oder?
    Und dagegen gibt es noch keinen Impfstoff?
    Liebe Grüsse
    Ingeborg Doni

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

An den Anfang scrollen