Geschichtenerzählen – eine vergessene Kunst
von Johannes Galli
Als moderner Schauspiellehrer bin ich der Meinung, dass jeder Schauspieler neun Geschichten parat haben muss, mit denen er in Foyers, auf der Straße oder in anderen für die Erzählkunst geeigneten Räumen oder im Freien sein wie auch immer geartetes Publikum in seinen Bann ziehen kann.
Drei Geschichten, die sich an Kinder richten, sollten Märchen sein.
Drei Geschichten, die sich an Jugendliche richten, sollten Griechische oder Germanische Mythen sein.
Drei Geschichten, die sich an Erwachsene richten, sollten sich um die ewigen männlich-weiblichen Widersprüche drehen.
Diese neun Geschichten bilden die Grundlage des Geschichtenerzählers, der von dort aus jederzeit eigene Geschichten entwickeln kann.
Diese Art, Theater im uralten Sinne zu verstehen, erfüllt auch die modernen Anordnungen, die auf der Bühne gelten. Denn obwohl der Geschichtenerzähler eine Menge Figuren erscheinen lässt, die im Widerstreit oder in heftiger Zuneigung miteinander in Beziehung stehen, sind keinerlei Kontaktregelverstöße auf der Bühne nötig.
Hier einige beispielhafte Möglichkeiten, welche Geschichten für welche Altersgruppe empfehlenswert sind. So kann sich jeder Geschichtenerzähler sein eigenes Programm zusammenstellen und je nach Anlass und Zielgruppe die passende Geschichte auswählen.
Der Geschichtenerzähler hält für die ganz kleinen Kinder das Märchen vom Schneewittchen parat, für die etwas älteren kleinen Kinder das Märchen vom Froschkönig und für die größeren Kinder das Märchen vom Rotkäppchen.
Für junge Jugendliche ist der Kampf um Troja ein geeigneter Erzählstoff, für die mittelalten Jugendlichen die Sage um Ikarus und Daedalus. Für ältere Jugendliche empfiehlt sich die mittelalterliche Rittererzählung von König Arthus’ Tafelrunde.
Für Erwachsene sollte man sich die großen Mythen vornehmen. Die Erlebnisse von Adam und Eva im Paradies und deren Vertreibung. Der Mythos von Lilith, die sich gegen Gott auflehnt. Und Romeo und Julia, diese zeitenübergreifende dramatische Liebesgeschichte.
Die Auswahl ist in diesem Beispiel beliebig zusammengestellt. Aber jeder Geschichtenerzähler hat eigene Vorlieben, eigene Märchen, Mythen und Geschichten, zu denen er eine besondere Vorliebe entwickelt hat. Und dieser Vorliebe wird er natürlich Ausdruck verleihen in seinem ganz individuellen Programm. Mit jedem Erzählen wird er beweglicher werden im Aufbau seiner Geschichte und sich immer mehr an die Zwischenrufe und Reaktionen seines Publikums anpassen können. So wird das Geschichtenerzählen zu einem Ereignis, das Erzähler und Zuhörer verwandelt.
Lieber Johannes,
vielen Dank für diesen wertvollen Artikel. Dieses Konzept wird fester Bestandteil des Ausbildungsmoduls „Storytelling“.
Liebe Grüße Gabriele
Super Orientierung auch für erfahrene Geschichtenerzähler! Herzlichen Dank!🎯 Lieben Gruß, Michael
Das klingt toll! Das ist nicht nur für Schauspieler eine super guideline!
Damit steht doch schon ein perfekter Lehrplan für Schulen.
Lieber Johannes,
WOW! Ein schönes, künstlerisches Ziel! Genial.
Danke.
Mit voller Begeisterung verfolge ich die Blogbeiträge, die mir als Schauspieler sehr helfen, mich künstlerisch zu entwickeln, aber auch Weltgeschichte zu lernen und andere Perspektiven einzunehmen.
Herzlichen Dank für diesen Genuss!
Lieber Johannes,
Undenkbar für mich, ohne Deine Schriften durch den Alltag kommen zu können. Dein Blog hilft dabei, das Weltgeschehen einigermaßen unbeschadet zu begreifen.
Ein weiterer großartiger Geschichtenerzähler ist Michael Köhlmeier – z.B Sagen der Antike – der mich fesselnd in den Bann schlägt.
Ach, macht Lernen in der heutigen technischen Welt Spaß!
Meine Dankbarkeit kennt keine Grenzen.
Wunderbar! Wenn die Corona – Pandemie uns wieder in ein Maß der Normalität entlässt, bin ich gerne beim „Storytelling“ dabei! Ich liebe lebhaft erzählte Geschichten.
Lässt euch nicht unterkriegen!
Viele Grüße, Brigitte