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Eine alte Weihnachtsgeschichte

Seit Tagen quäle ich mich mit der Frage: Darf man mehrmals dieselbe Weihnachtsgeschichte erzählen, ohne dafür der Phantasielosigkeit bezichtigt zu werden?
Ich fragte einen erfahrenen und höchst begabten Geschichtenerzähler, der ungenannt bleiben will. Ich fragte ihn: „Kann man eine Geschichte mehrmals erzählen? Oder muss ein guter Geschichtenerzähler immer neue Geschichten erfinden?“
Er blickte mir lange und tief in die Augen, nahm einen tiefen Zug aus seiner Tabakpfeife, blies mir den Rauch ins Gesicht, blickte dann gen Himmel und hub mit seiner tiefen krächzenden Stimme an, zu sprechen: „Erstens: Eine Geschichte muss gut sein. Dann kann man sie mehrmals erzählen. Denn eine gute Geschichte hat eine gute Wirkung. Zweitens: Die Geschichte sollte sich formal immer wieder leicht verändern, so dass der Zuhörer, der die Geschichte schon kennt, aufmerksam zuhört, um zu erkennen, wo die Geschichte verändert wurde. Drittens: Die Geschichte sollte einen Bezug zur momentanen Wirklichkeit haben. Zum Beispiel, wenn kriegerische Konflikte die Welt bestimmen, sollte die Geschichte kriegerisch erzählt werden. Viertens: Ein wirklich guter Erzähler erzählt eine Geschichte immer mit Bezug zu sich selbst. Fünftens: Die Geschichte sollte einen Bezug zu Märchen, Mythen oder Bibelgeschichten haben, um die Tiefe zu garantieren. Sechstens: Eine Geschichte sollte immer in einer gemütlichen Umgebung erzählt werden mit Knabberzeug und gutem Wein. Siebtens: Auch die jahreszeitliche Stimmung sollte in einer wirklich guten Geschichte erfasst werden und sich in der Rahmenerzählung widerspiegeln.“
Ich beschloss, die sieben Punkte für meine Weihnachtsgeschichte zu berücksichtigen.
Spontan plante ich, da es erst Oktober war und ich die Geschichte um die Weihnachtszeit erzählen wollte, in den Hochschwarzwald zu fahren, in dem ich eine Winterlandschaft erwartete. Dort wollte ich mich für meine Rahmenerzählung inspirieren lassen.
Ich wählte den Schauinsland in der Nähe von Freiburg, der mit seinen eintausendzweihundertvierundachtzig Metern über dem Meeresspiegel doch eine beträchtliche Höhe erreichte. Und wenn mir der verflixte Klimawandel nicht in die Quere käme, könnte ich dort schon Mitte Oktober mit Schneelandschaft rechnen. Und außerdem kannte ich dort aus meiner Studienzeit in Freiburg ein schönes traditionelles badisches Bauernhaushotel.
Als ich nach eintägiger Reise dort oben ankam, ärgerte ich mich, dass ich die Sonnencreme vergessen hatte. Denn es war der heißeste Oktober seit Menschengedenken. Genauer gesagt seit Temperaturaufzeichnung.
Also drehte ich um und fuhr Richtung München. Von dort aus wollte ich mich auf den Weg zur Zugspitze machen. Denn ich war sicher, dass ich in zweitausendneunhundertzweiundsechzig Metern Höhe eine Winterlandschaft vorfinden würde, die mich in die Stimmung für meine Weihnachtsgeschichte bringen würde. Und juhu, es klappte! In einer von mir rasch angemieteten Jägerhütte fand ich, was ich brauchte und wollte: Eine Winterlandschaft.
Dass der Ofen nicht funktionierte, war unangenehm, aber nicht wesentlich, da ich auch in einem Schlafsack auf einem grob geschnitzten Hocker gut sitzen und denkend arbeiten kann. Und das morgendliche Müsli kann man auftauen durch langes Hauchen.
Die unglaublich schöne Winterlandschaft, in der man im Geiste Sankt Nikolaus mit Schlitten von Rentieren gezogen sieht, entschädigt einen für all die Unbill.
Ich bin ein moderner Künstler und Schriftsteller und mir geht es nicht so sehr darum, ein Produkt zu kreieren, das der Konsument einfach zum Konsumieren benutzt, sondern ich möchte mir als mitteilsamer Schriftsteller bei der Arbeit über die Schulter schauen lassen. Deswegen präsentiere ich jetzt meine sieben Geschichtenerzählaufmerksamkeitspunkte zusammen mit meiner diesjährigen Weihnachtsgeschichte. Hier die aufbereitete Arbeitsgeschichte:

DIE WEIHNACHTSGANS

Weihnachten ist psychisch gesehen eine sehr gefährliche Zeit. Aus diesem Grunde möchte ich mit warnenden Ratschlägen nicht hinterm Berg halten. Die meisten Menschen sind jetzt voll im Stress, und um der psychisch schwierigen Zeit zu entgehen, konzentrieren sie sich auf die Vorbereitung der verschiedenen Weihnachtsessen und Weihnachtsgetränke. Ansonsten hoffen sie einfach darauf, dass die menschlichen Begegnungen an Weihnachten schon irgendwie gut gehen werden. Schließlich ist es ja das Fest der Freude. Dennoch wiederhole ich: Es ist Vorsicht geboten. Es ist die dunkelste Jahreszeit. Kalt und finster. Und nach germanischen Sagen suchen uns um diese Zeit die Geister der Ahnen heim und stacheln uns auf und sorgen für Zwietracht unter den Menschen.
Gerade das Aufeinandertreffen langjähriger Verwandter und anderer nicht immer angenehmer Zeitgenossen stürzt all jene, die meine Warnung nicht ernst nehmen, in eine tiefe Weihnachtskrise. Anstatt sich auf menschliche Begegnungen psychisch gut vorzubereiten, beschränken sich die Vorbereitungen der Weihnachtsfeierer auf körperliche Genuss-Planung. Gibt es Gänsebraten oder Karpfen? Hase oder Wildschweingulasch? Mit Rotkraut oder Blaukraut oder Grünkohl oder Gelbwurz? Außer dieser Essensfrage muss die Getränkefrage geklärt werden: Rotwein, Weißwein oder Sekt? Gin, Wodka oder Whiskey? Oder für Oma einen Eierlikör? Wer braucht durch welche Alkoholika welchen Pegel, um festliche Freude zu empfinden? Natürlich alles vom Feinsten und in stapelbare Reservekanister abgefüllt, wie es das Fest gebietet.
Aber Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht. Schnell gibt ein Wort das andere und der Streit ist da. Irgendeiner macht eine wahre Bemerkung, und schon haben wir den Salat. Wer will denn an Weihnachten die Wahrheit hören? Um Gottes willen, niemand!
Ich sage: Ball flach halten! Lehrstunde im Smalltalk, zu deutsch: Kleingespräch. Nichts riskieren. Bei gegensätzlichen Meinungen: Mund halten. Nichts ausdiskutieren. Auf keinen Fall provozierende Reden schwingen.
Wer nun fragt, was um Himmels willen er denn dann bitteschön an Weihnachten reden soll, dem gebe ich sogleich die Antwort: Wäre es nicht passend, eine schöne Geschichte von früher erlebten Weihnachtsfesten zum Besten zu geben? Ich will mit einem Beispiel vorangehen und etwas aus meinem früheren Leben erzählen. Es war vor etwa sechzig Jahren, als ich als Zehnjähriger wieder einmal Weihnachten erlebte.
Die Bescherung am Heiligabend war gut gelaufen. Ich hatte das Theaterstück „Oh, wie ich mich über meine Geschenke freue“ gut durchgezogen und hatte mich nur erkundigen müssen, ob die selbstgestrickten Wollsocken vielleicht doch Fäustlinge waren, um daraufhin durch zähes Nachfragen zu erfahren, dass es zwei selbstgestrickte Skimützen sein sollten. Auch mein Schwesterchen spielte ihre Rolle gut und freute sich scheinbar maßlos über ein selbstgenähtes Puppenkleid, was aber eigentlich ein Hosenanzug war, von dem wir beide wussten, dass sie ihn der Puppe nie antun würde.
Vater hatte relativ früh den Pegel der Glückseligkeit ertrunken und Mutter hatte früh die Segel gestrichen. Sie hatte einfach mit den Weihnachtsvorbereitungen zu viel zu tun gehabt.
Der Höhepunkt aber, von dem ich ausführlich erzählen will, war natürlich am ersten Weihnachtsfeiertag die Weihnachtsgans. Wie jedes Jahr hatten wir alle Hoffnung, dass wir in diesem Jahr heil das Mittagessen am ersten Weihnachtsfeiertag überstehen würden. Das war nämlich verdammt kritisch.
Jahr für Jahr begannen meine Eltern bei diesem Mittagessen einen Streit. Aber vielleicht hatten wir dieses Jahr Glück?
Nun der Reihe nach! Vater hatte zu diesem Zeitpunkt noch kaum etwas getrunken und Mutter hatte sich am Backofen die rechte Hand verbrannt. Aber das Rotkraut schmeckte gut und auch der Kartoffelbrei war schön sahnig. Aber das alles war nur Vorgeplänkel. Die Frage aller Fragen lautete: Wie würde die Gans schmecken? Im Großen und Ganzen schmeckte sie passabel. Gut, möglicherweise ein bisschen zu zäh. Aber für jemanden, der gewohnt sein sollte, sechsunddreißig Mal zu kauen, war das wirklich kein ernsthaftes Problem. Nur mit dem Schlucken wurde es schwierig …
Wir saßen also kreuzweise am Tisch: Mutter meinem Vater gegenüber, ich meiner Schwester gegenüber. Aber was war das? Da rollte ganz langsam eine Zündschnur aus Mutters Mund und schlängelte sich quer über den Tisch in Richtung Vater. Meine Schwester und ich blickten entsetzt.
„Vater“, schrien wir beide … ich meine innerlich … also unhörbar … „Sei vorsichtig! Pass auf die Zündschnur auf. Um Gottes willen, sage nichts Negatives. Und wenn du etwas sagen musst, dann lautet der vorgeschriebene Satz: ‚Die Gans schmeckt besser als bei meiner Mutter’!“
Wir starrten gebannt auf die Zündschnur. Würde Vater sie trotz allen unsren telepathischen Warnungen anzünden? Oder würde er es dieses Jahr schaffen, Diplomatie walten zu lassen? Ich glaube, vorgenommen hatte er sich’s. Aber dann kam von Mutter die Granate aller Fragen: „Na, wie schmeckt die Gans?“
Vater kaute noch. Ich kaute noch. Meine Schwester kaute noch. Wir beriefen uns alle auf das Tischgesetz: Mit vollem Mund spricht man nicht. So hatten wir ein bisschen Zeit gewonnen.
Natürlich war Vater in Not. Wahrheit oder Diplomatie? Ich versuchte ihn magisch zu beeinflussen und funkte ihm telepathisch rüber: „Vater, im Allgemeinen darf man nicht lügen. Aber an Weihnachten verzeiht das Christkind alles!“
Meine Schwester hatte das zähe Fleischteil unauffällig ausgespuckt und irgendwo im Kartoffelbrei vergraben. Jetzt schloss sie die Augen, und da sie als Teilnehmerin des weiblichen Geschlechts von Natur aus mehr Magie entfalten konnte als ich, war ich sicher, dass sie dem Vater telepathisch funkte: „Vater, beherrsche dich und sag lieber nichts!“
Auch ich hatte inzwischen die Gans (bestand sie denn nur aus Sehnen und Knorpeln?) im Rotkraut begraben.
Dann schluckte mein Vater die Gans hinunter. Oder sollte ich sagen: Er würgte sie hinunter?
Vater suchte den Kompromiss und er sagte: „Es geht.“
Oha! Meine Schwester und ich sahen es: Mit dieser Bemerkung hatte er die Zündschnur in Brand gesetzt. Die Funken sprühten und fetzten in rasender Geschwindigkeit über den Tisch, bis das Munitionslager in Mutters Mund explodierte. Worte wie Raketen flogen in Vaters Richtung und er kurbelte wie wild an seiner Flugabwehrkanone und schoss mit gleicher Wucht zurück.
Irgendwann kam es irgendwie zu Friedensverhandlungen. Aber eins ist sicher: In einem Krieg gibt es keine Gewinner, nur Verlierer. So auch hier. Die gemütliche Weihnachtsstimmung war dahin und ließ sich auch durch Erreichen des Pegelstands der Glückseligkeit auf Vaters Seite und Auftragen von Salbe zur Behandlung von Brandblasen an Mutters Händen nicht mehr wiederherstellen.
Die beiden lasen später noch irgendeine Geschichte vom Fest der Liebe und so vor. Ehrlich gesagt, es mangelte ihnen beim Vorlesen etwas an der überzeugenden Begeisterung.
Aber auch heute nach sechzig Jahren gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass an Weihnachten ein Lichtlein im Herzen aufgeht, von dem aus sich Freude ausbreitet, so dass Weihnachten das wird, was es schon immer sein wollte: Ein Freudenfest der Liebe.

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Vielen Dank lieber Johannes für deinen weisen Rat den Ball flach zu halten an Weihnachten und von früheren Weihnachtserlebnissen zu erzählen!

    Liebe Grüße
    Heidi

  2. Lieber Johannes,
    es ist der 1. Weihnachtsfeiertag, 6 Uhr 56. Die Familie schläft noch und ich? Genieße, mit einer Tasse Tee in der Hand den jungen Tag. Bin gut gelaunt und stromere auf der Suche nach weihnachtlicher Erbauung durchs Internet. Ja und dabei bin ich auf Deine Weihnachtsgansgeschichte gestoßen und es dauert nur kurze Zeit und schon sitze ich neben Dir am Tisch…. „Gans der Alte“ kommt es mir in den Sinn und gehe nun aufs beste angeregt in den neuen Tag. Schön, dass es Dich gibt! Hab Dank und sei gans herzlich gegrüßt von Deinem Zeitzeugen Manfred

  3. Ja lieber Johannes, ich
    habe Deinen Rat befolgt, und schon am Abend meinen zornigen Enkel auf weinachtliche Liebe und Verzeihen eingestimmt. Das hat bis in die Nacht hinein mit vielen guten Vorsätzen auch funktioniert. Doch oh Schreck. Kaum war mein Enkel am Weihnachtsmorgen aus meinem Gästekammerl erwacht, waren seine ersten Worte; „ich gehe jetzt runter zur Mama und sag ihr, dass ich nicht mit ihr Weihnachten feiern will. Sie hat mich zu sehr beleidigt und Säufer genannt.“ Kurz gefasst: Es gab noch viele Hin und Hers, auch Tränen. Dann haben wir wahrhaftig um 19.00 Uhr friedlich mit Champager auf das Fest der Liebe angestossen. Die vegetarische Lasagne meiner Tochter schmeckte köstlich. Die Gespräche wurden flach gehalten. Immer auf der Hut, kein falsches Wort zum Anlass von Streit zu wählen. Ganz genau so, wie Du es weise vorgeschlagen hattest. Sogar Walzer tanzte meine Tochter mit ihrem Sohn, der den Champagner inzwischen fast allein ausgetrunken hatte und noch den Rest einer Flasche Schnaps nachschob. Selig über seine Geschenke, die wahrhaftig für uns Alle wunderbar passten, zog mein Enkel die neue Unterhose, das Hemd und die Jeans an. Um trunken zu verkünden, dass er jetzt ausgeht und seine Freunde trifft. Wir wollten ihn, wegen seines maroden Zustands, dummer und unnötiger Weise davon abhalten. Mit der Liebe war es da verständlicher Weise sofort vorbei. Es krachte verbal mächtig. Mein Enkel schrieb mir heute früh, als er hier wieder eintrudelte, dass er uns lieb hat und nie wieder einen Tropfen Alkohol trinken wird. Und dass wir heute reden werden. Er schläft jetzt immer noch um 15.36 Uhr in meiner kleinen Gästekammer. Und mein banges Herz fragt sich nichts Gutes ahnend: Was ist da wohl passiert, das ihn zu dieser Einsicht brachte?
    Ganz liebe Weihnachtsgrüsse

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