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Das Hohelied der Liebe

Also neulich war ich wieder einmal ziemlich verdammt verzweifelt. Ich meine, es kam wieder mal alles zusammen. Dunkle Jahreszeit, Stromrechnung, Beziehungsknatsch, Hausstauballergie, schnupfige Triefnase und übersäuerter Magen. Also, ich meine das gesamte Abwärtsprogramm.
Also, was sollte ich da machen? Schließlich bin ich mit meinen fast siebzig Jahren nicht ganz unerfahren und kann mich eigentlich recht locker wie Baron von Münchhausen immer wieder am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Allerdings muss ich zugeben, dass im Laufe der Jahre meine Haare schütterer geworden sind und recht leichtsinnig ausgehen. Dies nur nebenbei.
Zurück zu meinem Stimmungstief neulich. Ich reagiere im Allgemeinen recht begeistert auf positive Texte. Also, ich meine Texte, bei denen am Ende immer die Hoffnung auf Besserung der momentanen Lebenssituation anklingt, Texte, die sich alle um das geheimnisumwitterte Wort „Liebe“ schmiegen wie eine liebestolle Katze an die Füße des Frauchens oder Herrchens.
Ich kramte ein wenig in meinen Märchenbüchern herum und sogleich wurde ich fündig. Jorinde und Joringel, ein Märchen der Gebrüder Grimm, wo ein jung und zart verliebtes Pärchen in den Bannkreis einer bösen Hexe gerät, die die beiden trennt. Der junge Bursche sucht sein Leben lang seine heilige Geliebte, die inzwischen zum Vogel verwandelt wurde. Er findet sie und erlöst sie und sie lieben sich in alle Ewigkeit oder so … ach, seliges Versinken! Aber irgendwie erreichte mich dieses Märchen nicht richtig.
Die böse Hexe schwirrte immer noch in meinem Herzensgedächtnis herum und störte meinen Märchenliebestraum gehörig. Was sollte ich mit ihr machen? Umbringen konnte ich sie nicht, denn Mord ist doch keine Lösung … oder?
Die Leser und der Leserin bemerken schon, wie abgründig so ein Märchen doch auch immer wieder sein kann. Also schlug ich das Märchenbuch zu und griff nach einem anderen, altbewährten, vor klugen Weltweisheiten strotzenden Buch: Die Bibel.
Hier hatte meine Ehefrau einen dicken Pappendeckel eingelegt, auf dem stand: „Lies das mal, du Rhinozeros!“
Rhinozeros nennt sie mich immer, wenn sie wütend auf mich ist wegen irgendeiner harmlosen Verhaltensauffälligkeit meinerseits.
„Nun gut“, dachte ich. „Manches Mal kann auch aus Zorn ein guter Hinweis entstehen.“
Also nahm ich die Bibel, schlug die Empfehlung auf Korinther 1 auf und begann zu lesen.
„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.“
Hä? Ich kann ja noch nicht mal prophetisch reden. Ich wäre ja dann wohl ohne Liebe ein Doppelnichts. Nun ja, nicht alles, was man liest, soll man auf sich selbst beziehen. Ich nahm mir vor, im Folgenden etwas distanzierter zu lesen.
„Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze.“
Meinen Leib dahingäbe? Wer interessiert sich denn für meinen Leib? Mal ehrlich gefragt … Ach so, ich wollte ja distanzierter lesen …
„Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit …“
Aber hallo! Das sollte meine hoch wertgeschätzte Ehefrau einmal selbst studieren. Hier beschleicht mich das untrügliche Gefühl, dass dieser Teil von Herr Korinther direkt für meine Ehefrau geschrieben wurde. Nach diesem höchst interessanten Aspekt las ich gespannt weiter.
„… sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.
Die Liebe höret nimmer auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk.“
Geb ich volle Kanne zu. Ich hab den ganzen Tag das Gefühl, dass mein Leben Stückwerk ist. Irgendwie aus so einem Patchwork zusammengesetzt.
„Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.“
Jetzt frag ich mich: Wer soll das sein, das Vollkommene? Ich kenne in meinem ganzen Bekanntenkreis nicht einen einzigen Vollkommenen. Und auch in der weltweiten Kirchenschule, in der die Bibel Pflichtlektüre ist, gibt es nach meinem Dafürhalten keinen Vollkommenen. Noch nicht einmal der Schuldirektor aus Rom.
Freilich gebe ich zu, dass ich selbst das Hochgefühl, vollkommen zu sein, hie und da erlebe. Aber meistens ist’s am nächsten Morgen rasenden Kopfschmerzen gewichen.
„Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.“
Also, hier ist wieder meine ehrliche Seite gefragt. Also, ganz ehrlich, wirklich ganz ehrlich, mit Schwur und Hand aufs Herz und so: Ich glaube, ich bin ein Kind geblieben. Also zumindest rede ich wie ein Kind – also ich meine, schon mit deutlich tieferer Stimme, aber halt so inhaltlich – und denke wie ein Kind und bin klug wie ein Kind … Mit der Mannwerdung das hat nicht wirklich geklappt. Ich meine, körperlich und so schon. Aber geistig … oje! Das hat nicht geklappt.
„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.
Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“
Ein wirklich schönes Schlusswort. Das hätte von mir sein können. Ach, dieser Scherz sei mir doch erlaubt. Ich habe sogar lange überlegt, ob ich meine blöde Schlussbemerkung stehenlassen sollte oder nicht. Eine ganze Weile dachte ich, dass das, was Herr oder Frau Korinther gesagt hat, ein tolles Schlusswort bildet.
Ach, ich glaub, ich lass das Original als Schlusswort stehen. Es ist einfach zu schön, als dass ich noch meinen unnötigen Senf dazugeben müsste.

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Lieber Johannes,

    über die Liebe zu fabulieren, ist ein unendliches Vergnügen für mich. Danke für diesen herzerwärmenden Beitrag.
    Mein liebstes Märchen ist „Jorinde und Joringel. Die letzte Verfilmung – mit Katja Flint als böser Hexe – war hervorragend dadurch inszeniert, daß sie am Schluß in eine Steinsäule verwandelt und mit ihrem verhaßten Ritter zur Schau gestellt wurde. – Ein tolles Ende !
    Alles Liebe
    Charlotte

  2. Lieber Johannes,

    dein Text ergreift mich sehr und und ja, er erwärmt mir mein Herz. Auch mein innerliches Kind lächelte.

    Amüsiert habe ich mich über: „Die Leser und der Leserin“.

    Ganz liebe Grüße
    Dennis

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