MEP – Meine Eigene Partei
Es ging hoch her! Genauer gesagt drunter und drüber. Noch genauer gesagt kreuz und quer. Ich meine, die Argumente flatterten wie wildgewordene Schmetterlinge durch die Kneipe, in der ich mich wegen persönlicher Präsenzkontakte befand. Kein Wunder. Denn die Bundestagswahl lag in der Luft. Und alle Politiker mit und ohne Rang und Namen hackten auf einen ein, damit man ihnen seine Stimme schenkte. Aber so einfach kriegt man meine Stimme nicht. Ich bin Demokrat von Kopf bis Fuß und weiß, was meine Stimme wert ist. Ich weiß, wie ich mit einem Kreuz hinter der richtigen Partei regionale, nationale, ja, sogar weltliche Geschichte schreiben kann. In mir ruht wie in jedem anderen ungebrochenen Demokraten die Antwort auf alle Fragen die Demokratie betreffend. Also, ich meine: Wer sollte sonst die Demokratie unterstützen als ein waschechter Demokrat?
Zurück zur Kneipen Situation. Wir zerpflückten die Parteien, wägten deren Argumente ab und näherten uns gemeinsam mit diesen Parteien den großen Fragen der Welt: Klimaschutz, Umweltverschmutzung, Müll Recycling, atomare Auf- beziehungsweise Abrüstung, Pandemiebesänftigung, Homeschooling … Ach, ich hatte mich so richtig heiß geredet und musste mich immer wieder mit kühlem Riesling entzerren. Aber dann raunzte mich einer von schräg gegenüber an. Er sagte nämlich: „Ich glaube, du gehst gar nicht wählen. Mit so einem Argumentegulasch im Kopf wie du ist man nicht in der Lage, sich für eine Partei zu entscheiden.“
Ich war perplex. Im innersten Mark getroffen. Ich wurde rot bis zu den Haarspitzen, denn plötzlich war es am Stammtisch ganz ruhig geworden und alle blickten mich an, als ob ich ein Verräter sei. Einem aufrechten Demokraten wie mir wurde unterstellt, dass ich das entscheidende Instrument der Demokratie, die Bundestagswahl, gar nicht nutzen wollte, sondern schnöde auf der faulen Haut durch die nächste Legislaturperiode hindurchdämmern wollte.
Nein, das ging nicht! Auf keinen Fall. Ich musste mir etwas ersinnen, um vom Pranger loszukommen, an den ich mich selbst gestellt hatte.
Und dann kam mir meine Idee, ganz langsam von den Fußzehen über die Fußgelenke, die Beine hoch, übers Knie. Es kribbelte an meinem Geschlecht vorbei, die Hüften hoch, es kribbelte vorne vom Bauch bis zum Hals und hinten vom Steiß bis zum Nacken und dann explodierte förmlich die Idee in meinem Kopf, formulierte sich dort zu einem Satz, den ich dann den aufgeregten, ungläubigen Zuhörern ins Gesicht schrie: „Jawoll, ihr habt richtig gehört“, sagte ich, obwohl ich noch gar nichts gesagt hatte. Das war alles nur ein Trick, um die Konzentration aller auf mich zu lenken und für meinen folgenden Satz die volle Aufmerksamkeit zu erheischen: „Ich wähle MEP!“
Natürlich glotzten alle verständnislos in der Gegend herum. Natürlich verstanden sie nur Bahnhof. Und deswegen ließ ich sofort die Katze aus dem Sack und erklärte lässig souverän, wofür die Abkürzung MEP stand: „Meine Eigene Partei!“
Es war totenstill und ich spürte, es haute alle um! Das hätte mir keiner zugetraut, dass ich mir nichts dir nichts sozusagen aus dem Handgelenk eine eigene Partei ins Rennen schickte.
Und dann geschah etwas Herrliches: Die eine Hälfte meiner Stammtischbrüder fragte aufgeregt herum. Und die andere Hälfte meiner Stammtischbrüder gab ungefragt und ungewollt kompetente Antworten. Und ich saß in der Mitte, lächelte süffisant, ließ mich als Parteigründer feiern und trank ein paar Schlückchen von meinem köstlichen Riesling Erbacher Hohenrain.
Eine Stimme nuschelte: „Du brauchst aber viertausend Unterschriften.“
„Na und“, dachte ich schweigsam, „null Problemo!“
Eine andere Stimme rief: „So viele Stimmen kriegst du nie zusammen. Du kennst doch kaum jemanden.“
Ich blickte dem Sprecher tief in die Augen und dachte: „Nichts ist so kraftvoll wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“
Da röhrte eine Stimme: „Du brauchst mindestens so viele Parteimitglieder wie Bundestagsabgeordnete.“
Ich dachte gerade: „Huch, wie viele Mitglieder hat denn der Bundestag?“, da kreischte eine schon leicht angetrunkene Stimme: „Das sind knapp über siebenhundert.“
Ich dachte: „Mit einem Anreiz von 15.000 netto im Monat pro Person für nichts tun außer Labern kein Problem!“
„Und wie“, raunzte eine Stimme quer über den Tisch, „willst du deine Wahlkampagne finanzieren?“
Jemand kam mir zur Hilfe und blökte angeheitert: „He, für den Wahlkampf gibt’s doch Kohle vom Staat.“
Ein anderer stimmte zu: „Der Staat hat doch Penunzen wie Dreck.“
Da sagte mein Nachbar zur Linken unterstützend: „Dann gibt’s noch ’nen Haufen Sponsoren.“
Ich nickte und mein Nachbar zur Rechten grölte: „Und hallo, du hast doch schließlich Parteimitgliedsbeiträge. Prost!“
Alle prosteten sich vergnügt zu. Dies war der Moment für mich, um zum alles entscheidenden Punkt zu kommen. Mit entspannter und überzeugender Stimme hörte ich mich selbst sagen: „Mein Parteiprogramm ist einfach, durchschlagend, genial und überzeugt jeden!“
Unter Gelächter rief einer ironisch: „Was? Du hast ein Parteiprogramm?“
„Na klar“, grunzte ich selbstgefällig. „Wo kämen wir denn da hin, wenn es eine Partei gäbe, die kein Parteiprogramm hat? Sowas gibt’s doch gar nicht. MEP hat ein Parteiprogramm. Und was für eins!“
„Lass hören!“, riefen sie im Chor.
Gut gelaunt und siegessicher haute ich mein spontan entwickeltes Programm raus: „§1 Jeder Mensch, gleichgültig ob Mann oder Frau oder Sonstiges, ist ein einzelnes Individuum und kann nicht verallgemeinert werden.“
Sie waren alle stumm. Das haute alle um! Und gespannt lauschten sie meiner weiteren Parteiprogrammveröffentlichung: „§2 Abschaffung aller Sklavenarbeit – weltweit.“
Bewunderndes Raunen ging durch die Menge. Und gleich haute ich den nächsten raus: „§3 Abschaffung aller Kinderarbeit.“
Tja, da waren die Herren still. Das hätten sie mir nicht zugetraut, dass ich dermaßen kompetent loslege. Und weiter ging’s mit meinen Parteipgrogrammparagraphen: „§4 Frauen und Männer und Sonstige sind auf Augenhöhe gleichberechtigt und gleichgestellt. Bevorzugung nur auf Antrag möglich.
§5 Alle Menschen, ob Mann oder Frau oder Sonstige, verdienen gleich viel. Egal, was, wie lange und wie oft sie arbeiten.
§6 Reiche Unternehmen zahlen 50% Steuern. Mittlere Unternehmen zahlen 20% Steuern. Kleinere Unternehmen zahlen 10% Steuern. Kleinstunternehmen zahlen 1% Steuern. Künstler zahlen nix.“
Hier brandete spontaner Applaus auf.
„§7 Alle Politiker arbeiten ehrenamtlich, außer der Parteigründer der MEP. Der erhält einen fetten Anteil der Parteimitgliedsbeiträge aller anderen Parteien und nimmt auch dankend und diskret Spenden der Wirtschaftsunternehmen an.“
Ein Raunen ging durch die zuhörende Menge. Mir war es auch, als ob einer „Buh“ riefe. Ich überhörte ihn.
„§8 Wenn mein Nachbar noch einmal die Nacht durchkrakeelt, kann er was erleben. Ich lass mir diese nächtliche Ruhestörung nicht mehr bieten!
§9 Bei sämtlichen Lieferdiensten bundesweit hat der Gründer der MEP freie Pizza.“
Ungläubige bis grinsende Gesichter schlugen mir entgegen.
„§10 Ehescheidungen sind kostenlos.“
Tosender Beifall brandete wieder auf und ich fuhr stolz fort: „§11 Autostaus sind bundesweit verboten.“
Jetzt gab es kein Halten mehr und beim letzten Paragraphen konnte ich mich akustisch kaum noch durchsetzen. Deswegen musste ich stimmgewaltig „Ruhe“ brüllen, um dann den Höhepunkt zu präsentieren: „§12 Die Würde des Gründers der MEP ist unantastbar.“
Ehrfürchtig nickten meine beeindruckten Saufkumpanen, obwohl ich mich zugegebenermaßen gegen Ende meines schwungvoll begonnenen Parteiprogramms inhaltlich irgendwie verlaufen hatte. Aber zum Glück fiel mir was ein und ich rief: „Ich mach’s wie Macron. Ich gründe keine Partei, sondern eine Bewegung: „En Mache pour l’individualité“. Wir machen uns auf den Weg zur Individualität!
Das klingt endlich mal nach einer wählbaren Partei. Mir gefallen die Gesetzesvorschläge alle. Sollte kostenfreie Pizza das einzige Politikerprivileg sein, wäre das im aktuellen Vergleich unterirdisch bescheiden.