Der Teststäbchentrick
Neulich trieb mich ein strahlend blauer Winterhimmel hinaus in den Park. Dort saß eine Gruppe Jugendlicher auf einer Bank am Wegesrand, die tuschelten und sich wohl irgendetwas Unerlaubtes drehten. Sie schreckten auf, als ich federnden Schrittes heranschritt und neugierig stehenblieb. Ein vorlauter Bursche rief mir frech zu: „Alter, geh sterben!“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und war reichlich entsetzt über diese unfreundliche Anrede. Dennoch lüftete ich freundlich grüßend meinen Hut und schluckte lächelnd meinen ärgerlichen Zorn hinunter. Als ob nichts gewesen sei, schlurfte ich weiter. Ein paar Bänke weiter war eine freie Bank, auf die ich mich zur Ruhe setzen wollte. Halt! Das stimmt nicht ganz. Am Bankende saß ein Schuljunge, vielleicht so elf, zwölf Jahre alt, und blickte mich freundlich an. „Oh“, dachte ich und lächelte den Kleinen freundlich zurück an, „es sind nicht alle jungen Schüler unhöflich.“
Dann hielt ich mein Gesicht in die Sonne, denn ich wollte ein wenig frisches Licht schnuppern. Da sprach mich reichlich ungefragt der junge Schüler an. Er lachte und ich blickte fasziniert auf seine Zahnlücke. Dann flüsterte er geheimnisvoll: „Ich preperiere einen Schnelltest.“
Ich war unsicher, ob ich ihn richtig verstanden hätte, zumal die falsche Aussprache des Verbes „präparieren“ einen Mangel an Gedankenschärfe aufwies. Aber was machte er denn da? Er hielt einen mit Orangensaft gefüllten Strohhalm wie eine Pipette über ein Corona Schnellteststäbchen und träufelte ein paar Tropfen geschickt auf das Teststäbchen und erklärte mir lachend: „Ich mache den Test positiv!“
Nun fiel ich aus allen Wolken. Was war denn das? Zwar hatte ich davon gehört, dass sich die Schüler aus Pandemie-Abwehr-Gründen regelmäßig testen lassen müssen, aber dass sie den Test manipulieren, damit er positiv würde, habe ich noch nie gehört.
„Weißt du …“, erklärte mir der Kleine auf Nachfrage, „wenn mein Test positiv ist, dann kriege ich zehn Tage schulfrei. Yeah, yippie, yeah! Zehn Tage kein Stress mit den Lehrern, kein Rumgelerne, keine Hausaufgaben und viel chillen.“
Gedankenverloren glitt ich zurück in meine Schulzeit. Das war immerhin vor sechzig Jahren. Was haben wir damals alles riskiert, um einen einzigen schulfreien Tag zu bekommen?! Wir haben uns haarsträubende Geschichten ausgedacht, gelogen, dass sich die Balken verbogen haben und im Notfall sogar Unterschriften der Eltern gefälscht! Zumindest aber das Feuerzeug unters Fieberthermometer gehalten … Und heute geht es so einfach. Der Junge bot mir sogar an, wenn ich einen positiven Test bräuchte, könnte er ihn ohne weiteres „preperieren“.
Ich erklärte ihm höflich, vielleicht ein bisschen umständlich, dass ich im Moment für einen positiven Corona Test keine Verwendung hätte. Ich verabschiedete mich von ihm mit dem Lüften meines Hutes, wünschte ihm noch viel Erfolg, ging weiter meines Weges und dachte: Vielleicht ist es ein Denkfehler, dass Schüler unbedingt was lernen wollen. Nun gut, die Ehrgeizigen mit Numerus Clausus vielleicht, doch der Großteil der Schüler ist nicht darauf versessen, Dinge wie Geometrie und Algebra, die Geschichte der Merowinger, oder Shakespeare Dramen in der Originalsprache, oder die Gebirgszüge des Kaukasus, oder den Verlauf des chinesischen Flusses Jangtsekiang, oder deutsche Kolonien in Westafrika kennenzulernen. Ich dachte noch, vielleicht sollte man den Lehrplan ändern, sich ein bisschen näher an den Bedürfnissen der Schüler orientieren. So dass sie richtig Lust hätten, das Leben kennenzulernen.
Doch dann sah ich plötzlich am Wegesrand eine Bank, die gänzlich frei war, setzte mich darauf, hielt mein Gesicht in die Sonne und gedachte bedauernd der geistigen Dunkelheit, die rings um mich herum herrschte.
Jede Zeit hat ihre Tricks und ihre Jugendlichen: manche wollen lernen, manche nicht.
Ja, das ist der Zahn der Zeit oder die Zeiten haben sich geändert. Jede Generation schafft es in dieser Welt wie auch immer sie ist zu bestehen. Jedenfalls die meisten. alle anderen erleiden Schocks und Versagensängste aller Art.
Wer sich die Zeit nimmt und inne hält, der erfährt sehr viel über alles, selbst über sich.
Wie ausgefuchst ist denn der kleine Kerl? Der muss ja seine Intelligenz anstrengen, um herauszufinden, welche Flüssigkeit sich als positiv abbildet und nicht als ungültig?? Naja, das ist der Stil der Zeit: Ausgefuchste Lernwilligkeit!
Ein toller Block – vielen Dank!