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Der junge Mann im Nebel

Ich trottete von der Arbeit gedankenverloren nach Hause. Meine Arbeit ist diesseits des Rheins und mein zu Hause jenseits des Rheins. Logischerweise also betrat ich die Brücke und war immer noch gedankenverloren, als ich über die Steinbalustrade rechter Hand ins schlammbraune Hochwasser des Rheins blickte, der ziemlich wild und unkontrolliert seiner Mündung entgegen brauste.
„Oh je“, dachte ich bei mir, „da wollte ich nicht reinspringen!“ Und gleich darauf lächelte ich über meinen verwegenen Gedanken und war ziemlich glücklich, dass ich da auch nicht reinspringen musste. Aber in der Mitte der Brücke hatte sich ein junger Mann auf die Balustrade gesetzt und blickte auf seine großen Füße, die ziemlich ungeschützt über dem Rhein baumelten.
„Oha, ein Selbstmörder“, dachte ich noch scherzhaft und unvoreingenommen. Ich bin ein Mensch, der unter der Charaktermaxime lebt: Leben und leben lassen. In diesem Falle sogar auf die Spitze getrieben: Leben und sterben lassen. Dennoch verwickelte ich den jungen Mann in ein Gespräch. Vielleicht sollte es mir gelingen, ihn von seiner schändlichen und gänzlich unnützen Tat abzulenken. Ich meine, einen wirklichen Sinn konnte ich in meinem Leben auch nicht entdecken. Aber so schlimm, dass ich mich bei diesem kalten Wetter in einen schmutzig braunen reißenden Fluß schmeißen würde, so schlimm war es nun auch nicht. Der junge Mann war blond und die Haare standen ihm wirr vom Kopf ab, so als ob er in eine Steckdose gefasst hätte. Das Auffälligste war, dass er die Schultern so verkrampft hochzog, dass sein Kopf halslos dazwischen steckte. Mein locker angefangenes Gespräch beantwortete er ziemlich unwirsch.
Ich sagte nämlich launisch: „Na, was machen Sie denn da?“
„Siehst du doch!“, raunzte er mir zu, indem er seinen Kopf in meine Richtung drehte. Da sah ich, dass er einen riesigen breiten Mund hatte und die Zähne wie Würfelzucker schräg nebeneinander standen.
„Ich würde da nicht reinspringen!“
Er antwortete: „Warum nicht?“
Da merkte ich, dass er an einem lebensrettenden Gespräch interessiert war, und übertrieb etwas, als ich sagte: „Da wäre man doch nach wenigen Sekunden unterkühlt und die mit kaltem Schmutzwasser durchtränkten Kleider würden einen runterziehen und aus wär’s. Schluss! Aus! Basta! Finito! Ende der Lebensshow!“ 
Höhnisch grinste er, wobei sein breiter Mund fast die Ohren berührte, und er sagte lässig: „Mir kann es gar nicht schnell genug gehen!“ 
„Na dann“, sagte ich locker und blickte auf meine Armbanduhr, um ihm zu signalisieren, dass ich Wichtigeres zu tun hätte, als ihm den spärlichen Lebenssinn zu vermitteln, an den ich selbst kaum glaubte.
Juristisch geschult pflaumte er mich an: „He, das ist unterlassene Hilfeleistung!“
Ich verstand nicht. Sollte ich ihn etwa schubsen? Das würde ich auf keinen Fall tun. Das wäre streng betrachtet Beihilfe zum Selbstmord. Und diese Straftat wollte ich mir als unbescholtener Bürger nicht reinziehen.
Er setzte sich rittlings auf die Balustrade und war mit einem Bein schon wieder diesseits des Lebens. Spitzfindig drückte er mir folgenden Satz rein: „Du hättest es tatsächlich zugelassen, dass ich springe?“
Wortlos nickte ich mit dem Kopf. Da schrie er auf: „Ich glaube, mein Schwein pfeift! Du hättest wirklich mit der Schuld leben können, meinen Tod nicht verhindert zu haben?“
Die ganze Zeit über war mir schon aufgefallen, dass er mich duzte. Ich schlug ihm höflich, aber respektvoll vor: „Wollen wir beide in unserem Gespräch nicht das Personalpronomen ‚Sie‘ verwenden?“
Verbittert antwortete er: „Angesichts des Todes haben Höflichkeitsformeln keine Bedeutung mehr!“
Ich sprach weiter, während sich erste Nebelschwaden über dem Rhein bildeten: „Ich bin mir keiner Schuld bewusst.“
Er lachte auf und schrie, was durch den Nebel noch verstärkt wurde: „Doch, du hast Schuld! Wenn du mich hättest retten können und es nicht getan hast, dann bist du an meinem Tod schuld, und ich werde dich als Dämon heimsuchen. Nacht für Nacht besuche ich dich in Albträumen, bis du im Wahnsinn landest und selbst in den Rhein springst.“
Ruhig und beherrscht antwortete ich ihm, dass ein Sprung in den Rhein meinerseits schon möglich wäre, aber im Sommer bei Niedrigwasser.
„Freundchen!“, heulte er auf, „Mach dich nicht lustig über die Schuld, die wie ein Mühlstein um deinen Hals hängt!“
Ehrlich gesagt war jetzt der Punkt erreicht, an dem ich beschloss, wortlos weiter nach Hause zu gehen. Schließlich wartete man mit dem Abendessen auf mich. Ich ließ ihn einfach stehen beziehungsweise sitzen und ging grußlos meines Weges. Ich drehte mich auch nicht um, als ich Schritte hinter mir hörte. Aber dann überholte er mich und stellte sich mir in den Weg. Er packte mich am Kragen, schüttelte mich leicht und sagte: „Wie kannst du mit der Schuld leben, mich nicht vor dem sicheren Selbstmord gerettet zu haben?“
„Bitte lassen Sie mich los!“, konterte ich ungerührt und ging mit großen Schritten weiter.
Nun lief er neben mir her und ich sah staunend auf seine großen Füße, wovon nur einer beschuht war. Der andere Schuh strudelte jetzt wahrscheinlich schon im Rhein. Wieder argumentierte er ziemlich spitzfindig, dass meine Gewissensbisse, dass ich ihn nicht gerettet hätte, mich totbeißen würden. An der Haustür angekommen, sagte ich kalt: „Hier ist das Ende Ihres Spaziergangs.“ 
Nun hatte er Tränen in den Augen und fragte, ob er nicht auf ein warmes Süppchen mit reinkommen könnte. Ich war auf der Hut, dass er mich weiter erpressen würde und dass ich ihn ein Leben lang nicht mehr los bekäme. „Nein“, herrschte ich ihn unfreundlich an.
Er verstand sofort, verfluchte mich, drehte sich um, zog die Schultern hoch und zornig stapfte er los in den Nebel.
An der Haustür stehend blickte ich ihm nach, bis der junge Mann im Nebel verschwand. Sicher ist sicher!

Dieser Beitrag hat 5 Kommentare

  1. Lieber Johannes Galli, wir sind uns in guten Zeiten mehrmals begegnet, ich zehre bis heute von den klug-humorvollen Momenten, die noch sehr vital in mir leben. Auch diese kleinen Geschichten sind eine Bereicherung. Danke und alles Gute.

  2. Sein oder nicht sein das ist hier meine – Billigdenker-Variante. Natürlich habe ich Schuld und wenn ich das Süppchen einbrocke muss ich es auch auslöffeln, dazu bin ich ja hier.

  3. Für mich eine klare Ansage an die Eigenverantwortlich-
    keit für’s eigene Leben!
    Verpackt, wie immer unnachahmlich humorvoll, in eine vielschichtige spannende Geschichte! Toll!

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