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Das PISA Debakel 

Na, das war ein Hammerschlag auf den Kopf, als ich erfuhr, dass Deutschland noch nie so schlecht in der PISA Studie abgeschnitten hat. Für ungeübte Leser will ich PISA übersetzen: Programme for International Student Assessment (Programm zur internationalen Schülerbewertung).
Man kann sich’s aber auch einfach merken: Schiefer Turm zu Pisa – auf Sand im Untergrund gebaut – neigt sich immer weiter, bis er eines Tages einstürzen wird – eignet sich gut als Eselsbrücke für das deutsche Bildungssystem.
Mein Gott, wo sind wir hingekommen? Ehemals das Land der Dichter und Denker!
Und wer ist auf Platz 1?
Estland! Gefolgt von allerlei asiatischen und baltischen Ländern.
Was ist denn jetzt los?
Wer kennt denn schon einen Dichter aus Estland? Oder einen Philosophen aus Korea? Oder einen Mathematiker aus Singapur?
Es ist nicht mein Stil, zu jammern und zuzusehen, wie das ganze Bildungssystem zusammenbricht. Und auch an den Ursachenforschungsdiskussionen will ich mich nicht beteiligen. Denn ich bin der Typ, der sofort Hilfen verspricht, anbietet und – Achtung, jetzt kommt’s! – selbst durchführt.
Also habe ich sofort einen Einmannverein gegründet mit dem Namen „Mobiler Verein zur freiwilligen Hilfsaktion für bildungsferne Dussel im internationalen PISA Wettbewerb“, kurz „MVzfHfbDiiPISAW“. Ich fand die Abkürzung ziemlich genial. Auch dass ich mobil war, also überall mich dorthin begeben konnte, wo Not am Mann war beziehungsweise an der Frau. Ich musste mich nur an Schulen kurzfristig einmieten und konnte dann den betreffenden Schülern sofort mit meiner genialen Nachhilfe auf die Sprünge helfen, und das PISA Debakel würde sich nie mehr wiederholen.
Meine Auswahl für meinen ersten Einsatz war schnell getroffen: Das Goethe-Gymnasium in der Schiller-Straße.
Da mein Verein ja erreichbar sein musste, wenn ich in einem mobilen Einsatz tätig war, bat ich meine Nachbarin Frau Hilde Eisenhuth, eventuelle Anrufe entgegenzunehmen und mir hinterherzurufen. Frau Eisenhuth grinste und versprach mir, dass sie alle Anrufe entgegennehmen und mir nachschicken würde. Sie lachte, denn sie kannte mich und wusste aus Erfahrung, dass mich niemand anrufen würde.
Also schmiss ich mich auf mein Fahrrad und düste in die Schiller-Straße, wo ich das Goethe-Gymnasium alsbald fand. Dort hastete ich zum Schwarzen Brett und schrieb auf einen Zettel: „Kostenlose PISA Nachhilfe für 15-Jährige.“
Ich muss zugeben, ich war nie wirklich gut in der Schule im Rechnen. Aber hallo, ich hatte das Abitur geschafft! Zwar war das vor über fünfzig Jahren, aber einem 15-Jährigen konnte ich sicher einige mathematische Kniffe, an die ich mich noch erinnerte, beibringen.
Kaum hatte ich den Zettel angepinnt, stand auch schon ein Knirps neben mir, grinste mich fröhlich an und sagte: „He, Alter! Das trifft sich gut. Ich hab gerade eine Freistunde. Und Mathe-Nachhilfe wäre ein Heidenspaß.“
Ich fragte ihn: „Wo sollen wir hingehen?“
Er grinste und sagte: „Gehen wir doch hier gleich in die Cafeteria. Die ist um diese Zeit schön leer. Außerdem kannst du mich zu einem Streuselkuchen einladen.“
Gesagt, getan. Wir gingen in die Cafeteria. Diese war allerdings rappelvoll. So setzten Kai-Lysander und ich uns mit Kaffee und Kuchen bewaffnet auf die Terrasse der Cafeteria an einen leeren Tisch. Es war kalt, aber dafür ungemütlich, und wir begannen gleich mit dem Nachhilfe-Unterricht.
Ich wollte erstmal austesten, wie weit Kai-Lysander mathematisch schon ausgebildet war, und fragte: „Wie viel sind 17 Äpfel und 4 Äpfel?“
Er blickte mich entgeistert an.
„Oh“, dachte ich bei mir, „zu schwer. Vielleicht muss ich das Ganze bildlicher ausmalen“, und begann mit freundlicher Stimme: „Also, du hast einen Korb. In diesem Korb sind 17 Äpfel. Doch was ist da vorne? Da ist ja ein Regal! Oh, da liegen ja 4 Äpfel drauf. Die nimmst du auch noch mit. Flugs läufst du hin und packst die 4 Äpfel auch noch in deinen Korb. Jetzt kommt die Mutter und fragt: ‚Kai-Lysander, wie viele Äpfel hast du in deinem Korb?’“
Kai-Lysander blickte mir tief in die Augen und sagte dann überraschend konzentriert: „Hör mal zu, du Spaßvogel. Erstens: Ich esse keine Äpfel und schon gar nicht 21. Zweitens: Ich schleppe keinen Korb mit Äpfeln rum. Und drittens: Mutter hat sich noch nie für Äpfel interessiert, da ich keine mag und sie auch nicht.“
Er sah mein enttäuschtes Gesicht, und Mitleid mischte sich in seine Stimme, als er sagte: „Wir können ja Textaufgaben machen.“
„Oh“, sagte ich und runzelte spontan die Stirn. Textaufgaben waren für mich schon in meiner Schulzeit immer zu schwer gewesen. Aber warum verzagen? Ich konnte mir ja schnell eine ausdenken.
„Also …“, sagte ich gedehnt, um Zeit zu gewinnen. Er nutzte die Zeit, um seinen Streuselkuchen zu mampfen. Unbeirrt fing ich an: „Ein Zug fährt um acht Uhr ab. Er fährt mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Kilometer pro Stunde. Frage eins: Wie weit ist er nach eineinviertel Stunden gefahren? Frage zwei: Wie weit ist er um 9.25 Uhr gefahren?“
Zu meiner Überraschung nahm Kai-Lysander sein Smartphone hervor und legte los. Ich dachte mir: „Was ist denn mit dem los? Das kann man doch einfach im Kopf rechnen.“
Da stellte er mir schon die erste Frage: „Fährt der Zug pünktlich ab?“
Verunsichert sagte ich: „Ja, schon!“
Er lachte schelmisch: „Weil die Bundesbahn ist ja nie pünktlich.“
Ich dachte: „So jung und schon so kritisch“, sagte aber leutselig: „Weißt du, Kai-Lysander, die Bundesbahn nimmt das nicht so genau. Bis zu sechs Minuten Verspätung ist für die keine Verspätung. Also sagen wir einfach: Um 8.03 Uhr ist der Zug losgefahren.“
„Nächste Frage: Der Zug fährt ja nicht aus dem Stand mit 50 km/h los. Wie lange braucht er, um von 0 auf 50 km/h zu beschleunigen?“
Diese Fragen wurden mir unangenehm, aber ich wollte mir keine Blöße geben und sagte: „Ja, so … fünf Minuten …“
„Ist der Zug leer oder voll?“
Ich sagte: „Das ist nicht wichtig.“
Er sagte: „Doch, das ist wichtig. Denn je voller, umso länger die Beschleunigungsstrecke. Die muss ich doch abziehen.“
Ich feixte. Da war mir ja etwas Schönes gelungen. Denn er rechnete und rechnete und notierte sich was. Es war eindrucksvoll. Und als er endlich rief: „Ich hab’s“, war ich wild entschlossen, das Ergebnis, das er mir gleich präsentieren würde, zu akzeptieren. Aber er fragte hinterlistig: „Was hast du denn rausbekommen?“
Ich kam ins Stottern. Gnädig unterbrach er mich und sagte: „Du Spakko hast doch keine Ahnung. Was willst du mir eigentlich beibringen?“
Da hatte er mich auf kaltem Fuß erwischt. Was wollte ich ihm eigentlich beibringen? Oder noch quälender gefragt: Was konnte ich ihm eigentlich beibringen?
Laut sagte ich: „Hm, wir haben noch eine halbe Stunde. Was machen wir denn noch?“
Er freute sich und holte aus seiner Schultasche ein Kartenset. Er fragte mich: „Kannst du Poker?“
„Klar“, grinste ich.
Er schickte mich nochmal nach drinnen an die Theke, um für ihn noch einen Streuselkuchen zu holen. Derweil mischte er die Karten und teilte aus. Es wurde noch ein gemütlicher Vormittag. Natürlich gewann er. Ich glaube sogar, er hat ein bisschen geschummelt, aber was soll’s? Man muss den jungen Menschen das Gefühl geben, dass sie erfolgreich sind. Dabei kann man ruhig selbst ein bisschen zurückstecken.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Eine wundervolle Geschichte! Du bist, wie ich mich erinnere, schon immer schwanger mit dem Thema „scheitern“ gegangen. Und hast es aus der dunklen Verdammnis befreit und so herrlich ehrenhaft und liebenswert gemacht.
    Danke!

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