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Das Poesiealbum

Zu meinem zehnjährigen Geburtstag schenkte mir meine Tante ein schönes Poesiealbum mit tollem Ledereinband, Goldschnitt und wertvollem glatten Papier. Damals, also vor sechzig Jahren, war es Sitte, dass einem Freundinnen und Freunde, Schulkameradinnen und Schulkameraden ihr Poesiealbum überreichten, und dann musste man dort hinein kluge Sprüche über das Leben und die Freundschaft schreiben und ausgeschnittene Bilder dazu kleben. Ein schönes Ritual, das die Freundschaft untereinander stärken sollte. Und nun hatte ich auch ein Poesiealbum, aber ich hatte auch ein Problem. Niemand hatte mir bislang sein Poesiealbum überreicht, und ich war zu schüchtern, um mein leeres Poesiealbum irgendjemandem anzubieten. Also beschloss ich, das schöne Poesiealbum von Tante Erna als mein Tagebuch zu nutzen. Und so schrieb ich solch spannende Beiträge wie welches Eis ich gegessen hatte, wann es Hühnchen zum Mittagessen gegeben hatte, dass mein Lieblingslehrer Beppo Brehm hieß und wann ich abends ins Bett musste. Und das machte ich regelmäßig. Und ich behielt das Tagebuchschreiben mein Leben lang bei. Später in der Pubertät wurde es schon spannender, was ich da so alles erlebte. Noch später im Studium füllten sich die Seiten mit prallen philosophisch politischen Betrachtungen und psychoanalytischen Bemerkungen. Tagebuchschreiben war für mich unverzichtbar und zwang mich Tag für Tag, mich selbst zu beobachten, mich selbst zu beschreiben und zu reflektieren. Das Tagebuchschreiben ist eine unschätzbar wertvolle Angewohnheit, das Bewusstsein zu schärfen.

Autor: Johannes Galli | Geschrieben für die Zeitschrift “Lebens(t)räume” 

Comments (3)

  1. Vielen Dank für diesen Beitrag! Ich bin immer wieder fasziniert von deiner Kraft rhythmisch zu arbeiten und somit wahre Schätze im Galli Verlag zu veröffentlichen. Dein autobiografisches Werk „Aus dem Leben eines Clowns“ ist genial!

  2. Das ist ein wunderbarer Beitrag.
    Ich schreibe noch nicht allzu lange Tagebuch, lese aber in regelmäßigen Abständen alte Chat-Verläufe, SMS oder E-Mails.
    Das schöne dabei ist, zu erkennen, das negative Gefühle verschwimmen oder ganz verschwinden, wahrend bestimmte Gefühle für Personen, oder Dinge, die man gerne tut, ein Leben lang konstant bleiben.

  3. Danke für diesen herrlich erfrischenden Beitrag.
    Er erinnert mich daran, dass ich zum 16. Geburtstag ein Tagebuch zum Abschließen von meiner Patentante bekommen habe. Das ist jetzt genau 39 Jahre her und ich schreibe bis zum heutigen Tag Tagebuch. Ich habe mich über das Tagebuch schreiben der deutschen Sprache angenähert, ich bin nämlich Schwäbin. Meine Lehrer gaben mir beim Aufsatz schreiben immer die Rückmeldung, dass ich wohl inhaltlich gut bin, aber mein Ausdruck lasse sehr zu wünschen übrig. So fing ich beim Tagebuch schreiben an, Wörter zu suchen, die sich vom Inhalt her ähnelten, damit ich nicht immer die gleichen Wörter verwenden musste. Oder anstatt immer nur zu schreiben: „Ich habe gemacht“ – suchte ich nach den entsprechenden Verben.
    Ich spreche immer noch leidenschaftlich schwäbisch, aber mein Wortschatz hat sich über das Tagebuch schreiben erweitert.

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