Ich habe keine Vorurteile! 

Neulich wanderte ich so gedankenverloren durch die kleine Großstadt, in der ich wohne, oder sollte ich besser sagen große Kleinstadt, in der ich wohne?! Naja, wie es auch sei, es ist gehupft wie gesprungen. Jedenfalls, meine Gedanken kreisten um die wenig interessante Frage, warum es auf dem Planeten Merkur kaum Sauerstoff gibt, ja, er so gar keine Atmosphäre hat, weil diese durch die Sonnenwinde weggepustet wird.
Da fiel mein Auge auf eine Gruppe von vier schwarzkaftangekleideten und verschleierten Frauen, die sich laut in einer unverständlichen Sprache mit auffällig modulierter Stimme unterhielten. Da sie große und viele edle Einkaufstaschen in den Händen hielten, dachte ich: „Ah, die Frauen eines Ölscheichs oder so kaufen sich hier in Deutschland dumm und dusselig … Ist es nicht zu teuer, sich vier Frauen zu halten? Vielleicht hat er sogar mehr. Also, ich finde entschieden, eine Frau reicht!“
Da stürzte ein Trupp, bestehend aus drei jungen Personen, auf mich zu und sprach mich in perfektem Deutsch an. Es war eine junge Frau um die zwanzig, die ein Mikrofon in der Hand hielt, ein junger Mann, der ein Aufnahmegerät trug, und ein Mann, der eine Kamera auf die Schulter gestützt hatte und die Kamera auf mich richtete.
Sie fragte mich mit inquisitorischer Strenge: „Haben Sie Vorurteile?“
„Nein“, schrie ich sofort und sah, wie sie zuckend das Mikrofon von mir weg hielt. Wahrscheinlich wegen der Übersteuerungsgefahr.
Sehr eloquent versuchte sie, mich mit weiteren Fragen in die Enge zu treiben. Sie fragte mich, was ich von Frauen hielte, die streng verschleiert herumliefen, was ich von Frauen hielte, die im Schwimmbad nur in langen Kleidern ins Wasser gingen, und weiter fragte sie mich, ob ich als Vermieter zurückschrecken würde, wenn ich türkische Namen hören würde. Sie fragte mich weiter, ob ich Menschen in dicken Markenautos mit ukrainischen Kennzeichen als Sozialtouristen bezeichnen würde. Ich musste innerlich lachen über ihre billigen Versuche, mich aufs Glatteis zu führen, schwieg aber verbittert. Bis es mir dann doch zu viel wurde. Laut schrie ich mit stolzem Blick in die Kamera: „Ich habe keine Vorurteile. Ja, ich habe noch nicht einmal Urteile.“
Da blickten sie alle drei verdutzt. Dies nutzte ich, um weiterzustiefeln. Bei meinen Gedanken über die Frage, warum auf dem Merkur keine Atmosphäre herrscht, hatte ich allerdings den roten Faden verloren und wunderte mich ärgerlich über die Tatsache, dass die Reporter mir nicht angesehen hatten, dass ich ein völlig urteilsfreier Mensch bin.