Schönfärberei
Neulich beim sonntäglichen Frühschoppen habe ich aus lauter Jux und Tollerei eine Provokation rausgehauen. Einfach so. Ich habe bei unserem wöchentlichen Stammtisch, in dem wir über grundlegende Fragen des Menschengeschlechts wahllos herumdiskutieren, behauptet, Frauen, die sich die Haare färben, lügen auch gerne. Das war so dahingesagt in eine fröhliche, weinselige Runde. Aber was mir dann entgegenschallte, war die Hölle pur. Erst wurde es totenstill. Ich hatte gerade gedacht: ‚Huch, was habe ich denn da gesagt?’, da brach der Sturm los beziehungsweise über mich herein. Zum Glück gehört es zu unseren Frühschoppengepflogenheiten, unbedingt auf körperliche Gewalt zu verzichten. Diese Gewohnheit kam mir jetzt zugute. Denn ich sah blitzende Augen, geballte Fäuste, kampfbereit vorgeschobene Unterkiefer und sogar eine Frau, die ihr halb gefülltes Weinglas erhob, um es als Wurfgeschoss gegen mich einzusetzen. Doch dann gelang es allen, ihre Wut in Verbales zu transponieren. Kreischend diffamierte man mich aufs Übelste als deppenhaften Macho, als sexistischen Frauenhasser und – und hier wurde für mein persönliches Empfinden die rote Linie überschritten – als Arsch mit Ohren.
Ich weiß nicht mehr alle Schimpfworte, die noch so auf mich einprasselten. Aber wie ein Arsch mit Ohren sehe ich wirklich nicht aus. Ehrlich!
Aber warum hatte ich meine unbeliebte und von mir unhinterfragte Beobachtung so einfach heraushauen müssen? Wollte ich mich wichtig machen? Mitnichten! Ich wollte unserem Gespräch eine interessante Wendung geben. Das war alles! Und mein Gedanke war eigentlich ganz einfach gewesen. Jemand, der nicht zu seiner echten Haarfarbe steht, also zu seiner körperlichen Wahrheit steht, der steht auch nicht zu seiner psychischen Wahrheit, der wird hier auch Schönfärberei betreiben oder anders gesagt: Haarfärberei. Am Ende bleibt wie üblich die Wahrheit auf der Strecke. Dies also meine ernsthaften Gedanken, die auf unfruchtbaren Boden fielen.
Und dann kam’s zum Höhepunkt. Eine auffällig rothaargefärbte Frau provozierte mich brutal, indem sie sagte: „Alte Männer, die ein Gebiss tragen, lügen wie gedruckt.“
Da schrie ich auf. In die Enge wollte ich mich nicht treiben lassen. Und sofort nahm ich mein Gebiss aus dem Mund. Im Oberkiefer hatte ich noch zwei Zähne, im Unterkiefer drei. Ich öffnete schaustellerisch meinen Mund und alle wandten sich leicht angeekelt ab. Es war sicherlich kein schönes Bild, aber es war meine Wahrheit. Und ich war zur Wahrheit bereit.
In der nächsten Schimpfworte-Serie wurden Persönlichkeiten genannt wie: Frankenstein, Quasimodo, Graf Dracula … Noch weitere unglückselige Personen wurden benannt und allerlei Schimpfwörter hagelten auf mich nieder. Aber ich verstand sie nicht, denn ich hatte zum Selbstschutz kurzfristig mein Hörgerät ausgeschalten. Doch ich gab nicht auf, war wie besessen von meinem Wahrheitsdrang und riss mir das Toupée vom Kopf. Nun schlug alles in Gelächter um, und so wagte ich, mein Hörgerät wieder einzuschalten. Plötzlich waren sich alle einig, ich sähe aus wie ein Clown.
Ich nahm das als Kompliment und also als Versöhnungsangebot, machte noch ein paar Faxen, über die alle lachten, setzte mein Gebiss wieder ein, setzte mein Toupée wieder auf, und es wurde noch ein ganz gemütlicher, versöhnlicher Abend.
Aus einem Missgeschick kann ein „Clown“ eine Lachnummer machen und wenn später einmal davon erzählt wird gilt die Sympathie dem Clown und nicht der haargefärbten Frau, die sich mit der Schönfärberei ja Sympathie erhoffte. (Das ist eigentlich ein Bisschen ungerecht, aber welche Stammtischrunde ist schon gerecht und Versöhnung ist immer gut)
Da setzt sich einer künstliche Zähne in den Mund, ein Toupée auf den Kopf um ein Bisschen Sympathie zu erhalten und der Lacher kommt erst dann, wenn er sich das Zeug vom Kopf reisst.
Ja, wer gibt sich denn schon gern die Blöße.