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Wir alle sind Sieger!

Neulich blickte ich einmal unverbindlich um mich herum. Es war mitten im Gedränge, Samstagvormittag im Stadtzentrum. Als ich all die verschiedenen Gesichter der Menschen so sah, suchte ich das Uns-alle-Verbindende. Und plötzlich kam ich drauf: Menschenskind, wir sind ja alle Sieger! Nein, kein hastiges, nervöses, unglückliches, depressives Gesicht lasse ich gelten. Nein, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, lasst es euch gesagt sein: Wir sind alle Sieger! Und die Beweisführung fällt mir leicht:
Erinnern wir uns, als Vater uns losschickte, Mutters Ei zu spalten, und er uns mit auf den Weg gab: „Möge der Beste gewinnen.“
Und ich habe gewonnen. Und ihr habt doch auch gewonnen. Wir brauchen da nicht die Schultern zu zucken und zu sagen: „Na ja, war ja nicht so schwer.“ Das stimmt doch gar nicht. Es war verdammt schwer. Die Konkurrenz war übermächtig. Hallo? Pro Wettlauf ca. fünfhundert Millionen Mitstreiter am Start – ich wiederhole: Fünfhundert Millionen! Da kann man doch schon mal verzagen. Aber haben wir verzagt? Nein, nicht die Bohne! Haben wir aufgegeben? Nein, nicht die Tomate! Haben wir Höhen und Tiefen durchschwommen? Ja, volle Kartoffel!
Wie wir damals aussahen? Na, wie so ganz, ganz kleine durchsichtige Kaulquappen. Und vorwärtsbewegt haben wir uns mit peitschendem Schwänzchen.
Und noch mal: Es war nicht einfach. Nach drei Stunden waren die Schwächsten schon ausgesondert. Im sauren Milieu von Mutters Lustkanal sind sie untergegangen. Gegen Ende blieben ungefähr noch dreihundert übrig. Ist doch noch ganz schön viel Konkurrenz, oder? Die Zähesten und Stärksten und Ausdauerndsten konnten bis zu fünf Tagen im Lustkanal überleben. Und zu dieser Siegertruppe gehörte ich! Und nicht nur das; im alles entscheidenden Endspurt siegte ich. Ich war der Sieger aller Sieger. Und lachend stürzte ich mich aufs Ei und verschmolz mit ihm. Ah, herrlich! Dann spalteten wir uns immer weiter, immer weiter, immer weiter …
Und heute gibt’s nur noch Sieger auf der Welt.
Doch halt, was steht denn da? Ein Spiegel! Muss ich da reinschauen? Oha! Was seh ich denn da? Graue stumpfe Haare, ziemlich wenig. Falten wie die Alten. Tränensäcke leicht geschwollen. Nase rot geädert. Sieht so ein Sieger aus? Ich werde nachdenklich. Dann langsam kommt die Erkenntnis. Wie eine Wasserschildkröte kriecht sie an meiner gekrümmten Wirbelsäule empor. Meine Kundalini hat sich schon im Lendenwirbelbereich festgefahren, kommt weder vor noch zurück. Und dann haut mir die Erkenntnis voll aufs Geweih: Ich bin ein Verlierer.
Wie kommt das denn? Ich glaube, ich muss meine Theorie etwas korrigieren: Wir kommen alle als Sieger.
Aber kann man die Dinge nicht bei ihrem schönen Beginn belassen? Muss man immer aufs Ende schauen? Also gut. Die paar Zähne, die mir noch verblieben sind, beiß ich zusammen und denke die Konsequenzen: Wir kommen als Sieger und gehen als Verlierer. Dürfen wir wiederkommen? 

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Kommen als Sieger und gehen als Verlierer das passt gut in die Karwoche + ich meine immer, dass ich kommentieren müsse, was gar keinen Kommentar braucht.

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