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Tot in Venedig – Ein touristisches Pamphlet 

Gleich zu Beginn sei mein Wortspiel erläutert: „Tod in Venedig“ ist eine weltberühmte Novelle von Thomas Mann. Ich wollte mit meiner hintersinnigen Wortveränderung „Tot in Venedig“ darauf hinweisen, dass alles Schöne und Lebendige in der Touristenattraktion Venedig verstorben ist.
Ich schreibe diese Zeilen insbesondere für meinen Freund Knut, der seinen sechzigsten Geburtstag in Venedig feiern will.
Wirklich tolle Idee. Aber hey, Knut, ich bin doch dein Freund. Das gilt nicht nur für gute Tage, sondern auch für solche Tage, die für dich am nächsten Donnerstag mit dem Flug nach Venedig beginnen.
Nun mach dir doch keine Sorgen, wenn ihr voll besetzt über die Alpen fliegt. Es wird schon alles gut gehen. Aber bitte iss nichts in der Luft. Was die da oben anbieten, ist unter aller Sau. Freu dich lieber auf die ölige Pizza und die matschigen Spaghetti, die dich im Touristenrestaurant in Venedig erwarten. Aber alles gleicht sich aus. So auch hier: Schlechte Qualität bei viel zu hohem Preis.
Also, aus der Distanz betrachtet, muss ich sagen: Venedig ist ein schönes Ziel. Und eins ist sicher: Dreißig Millionen Touristen im Jahr können nicht irren.
Venedig ist die meistbesuchte Stadt der Welt. Und deine Fremdsprachenweiterentwicklung ist gesichert: Bei jedem Dritten, den du ansprichst, kannst du viele Fremdsprachen erlernen … außer Italienisch.
Ah, da fällt mir noch ein: Als Höhepunkt hast du sicher eine Gondelfahrt geplant. Weißt du, das ist sehr romantisch. Aber findest du es nicht ein wenig überteuert? Pro Ruderschlag fünf Euro! Und die Burschen rudern wie verrückt! Dazu noch ohrenbetäubendes Geschreie, als Gesang getarnt, fuffzig Euro pro Strophe …
Aber zum Glück gibt es ruhige, schattige Zimmer mit Blick auf den Hinterhof, in die du dich vom Lärm des Lebens zurückziehen kannst für schlappe 300 Euro pro Nacht im Jugendherbergstil.
Natürlich hast du Recht, wenn du sagst, eine Stadt, in der ein Casanova herumge… äh … spaziert ist, inspiriert dich. Warum auch nicht? Seine Leistungen, die er beschrieben hat, sind außergewöhnlich. Wahr oder frei erfunden? Wer will das nachprüfen? Die Frauen, die so aussehen, als ob sie heute noch leben, rücken nicht mehr mit der Wahrheit raus.
Ach, übrigens, ich habe etwas Lustiges über Venedig gelesen: Der Touristenstrom hat 1999 zu einer ungewöhnlichen Aktion der Stadtverwaltung geführt: Man warnte in Plakaten vor Venedig. Diese Plakataktion von Oliviero Toscani warnte mit drastischen Fotos von Ratten, verschmutzten Kanälen und verfallenden Palästen vor den hässlichen Seiten Venedigs, um diejenigen Besucher abzuschrecken, die eine Postkartenidylle erwarteten.
Ach, Knut … Du hast ja Recht … Was bringen dir denn vier Tage in deinem schönen Haus mit großer Terrasse und Garten am Park in Wiesbaden? Schau mal, da müsstest du morgens um elf frühstücken mit frischem Orangensaft, Cappuccino, Cornetti … Dazu eine Scheibe Weißbrot mit Mortadella und Salami, Mozzarella mit frischen Tomaten und Basilikum, ein paar Oliven … Alles beste Qualität, frisch vom Wochenmarkt. Und du würdest da im Bademantel sitzen, die Zeitung lesen …
Und wenn du dann später vom Verdauungsspaziergang im kühlen, leeren Park zurück kommst, müsstest du dir ein Gläschen Pinot Grigio einschenken und dich in Casanovas Memoiren vertiefen. Ist doch furchtbar, oder?
Auf der andern Seite Ratten jagen in Venedig und Ausgrabungen beiwohnen, wenn berühmte Kirchen und Paläste unter Taubendreck versunken seit Jahrzehnten immer wieder freigeschaufelt werden. Ist es nicht spannend, was da zum Vorschein kommt?
Ich seh es ja ein, wie langweilig es ist, mit einem guten Freund abends bei unserem Lieblingsitaliener „Da Mario“ einzukehren, wo du freundlich begrüßt, zum Tisch geführt und kompetent bedient wirst. Und dort bei hauchdünner, knuspriger Pizza, Spaghetti al dente, Saltimbocca, Gnocchi mit Salbeibutter und Parmesan und einem köstlichen Lammrücken über Gott und die Welt zu sprechen, die eigene Psyche ein wenig aufzudröseln und die köstlichen Speisen zu genießen. Und dann als Nachspeise Limoncello-Eistorte! … Jaja, die Italiener verstehen schon zu speisen, wenn es nicht gerade in Venedig ist …
Ach, Knut, da fällt mir noch ein Tip für Venedig ein: Versuche, morgens eine Stulle zu ergattern. Denn es kann sein, dass du mittags, wenn du dich in eine der langen Schlangen vorm Restaurant einreihen musst, vom Hunger überfallen wirst. Und bring auch deine eigene Flasche Wasser mit. Achte darauf, dass sie noch original verschlossen ist. Man hört von Gaunern, die das Wasser teuer verkaufen, das sie aus der Leitung abzapfen.
Aber ich glaube, Knut, gut durchtrainiert, wie du bist, bist du immun gegen Typhus!

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Da ich mich mit Tod befasse, gebe ich gerne Kommentare Sonderklasse: Gebildete und Intelektuelle und andere Grössen pilgern gerne nach Venedig (ich spinn herum im alten Venedig und muss nicht einmal dort gewesen sein).

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