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Papagalli erzählt, wie er Weihnachten feiert

Man soll Weihnachten auf keinen Fall alleine feiern. Das ist eine alte Volksweisheit. Die Gründe liegen auf der Hand. Es ist dunkel, ungemütlich und wer zu Depressionen neigt, kriegt sicher welche. Dazu muss ich sagen: Ich habe keine Angst vor Dunkelheit. Nein, im Gegenteil! Ich schätze umfassende Dunkelheit, da man darin unerkannt bleibt. Typisch für mich ist: Wo ich bin, wird’s ungemütlich. Ich neige überhaupt nicht zu Depressionen. Und wenn, verfüge ich literweise über die köstlichsten Antidepressiva.
Aber je näher Weihnachten rückt, umso mehr wird mir klar, ganz alleine will ich auch nicht feiern. Und deswegen suche ich Anschluss. Deswegen stehe ich schon seit Jahren vor der Frage: Wohin mit mir an Weihnachten? Da der liebe Gott mich mit einer gehörigen Portion Verstand gesegnet hat, habe ich einen Ausweg gefunden. Und so spähe ich jedes Jahr herum, wo bei meinen Bekannten noch ein Plätzchen frei ist, und versuche mich dann selbst einzuladen mit geschickt gesetzten Worten wie: „Oh, ich wüsste, wer euren übrigen Gänseschenkel noch gerne essen würde.“ Oder: „Ach, bei euch ist’s bestimmt an Weihnachten sehr gemütlich für eine einsame, verlorene Seele wie mich.“ Oder: „Ihr könnt doch nicht den ganzen Rotwein alleine trinken.“
Und dann sehe ich die Blicke. Der Hausherr blickt die Hausfrau an, sie blickt zurück, Augen wie Fragezeichen: ‚Was sollen wir tun?’
‚Ah’, denke ich, ‚sie sind schon verunsichert.’ Und dann erfinde ich einen gemeinsamen Nenner wie zum Beispiel: „Mein Enkel ist an der gleichen Schule wie eure Kinder oder in einem ähnlichen Kindergarten oder so …“ Mit diesem Trick habe ich schnell einen Fuß in der Tür. Und wenn die Herrschaften über ein mildtätiges Herz verfügen, laden sie mich ein – und schwups, bin ich um Punkt zwölf am ersten Weihnachtsfeiertag gestriegelt und geschniegelt an Ort und Stelle. Für die Hausfrau bringe ich eine geschmackvoll verpackte Rose, für den Hausherrn eine Flasche Rotwein und für die Kinder Kaugummis. Ja, ich weiß, was sich gehört.
Gut, ich höre manchmal hie und da das Wort „Schmarotzer“ hinter meinem Rücken. Oder „Parasit“. Aber ein Mann wie ich kann im richtigen Moment die Ohren verschließen. Außerdem weiß ich aus Erfahrung, dass wenn es wirklich rund geht, kein Mensch mehr auf mich achtet. Und es geht immer rund! Denn es ist die dunkelste Jahreszeit. Kalt und finster.
Da liegen die Nerven blank.
Um meinen Besuch scheinbar zu rechtfertigen, halte ich gerne mal eine knackige Rede. Diese beginne ich mit einem Hinweis darauf, dass uns nach germanischen Sagen um die Weihnachtszeit die Geister der Ahnen heimsuchen und uns aufstacheln und für Zwietracht unter den Menschen sorgen. Hier an dieser Stelle gemahnen mich oft Hausfrau und Hausherr, kein dummes Zeug zu labern, sondern mich in Bescheidenheit zu üben oder direkt gesagt die Schnauze zu halten. Ich tue natürlich wie mir geheißen und lechze schweigend dem Festessen entgegen. Ich weiß sowieso, dass es zum Knall kommen wird.
Dann wird die Gans serviert. Ich finde sie ganz gut. Gut, möglicherweise ein bisschen zu zäh. Aber für jemanden, der gewohnt sein sollte, sechsunddreißig Mal zu kauen, ist das wirklich kein ernsthaftes Problem. Ich proste augenzwinkernd dem Hausherrn zu, der prostet zurück. Ich spüre deutlich: Das ist der gelungene Teil des Abendessens.
Aber was ist das? Da rollt ganz langsam eine Zündschnur aus dem Mund der Hausfrau und schlängelt sich quer über den Tisch in Richtung des Hausherrn. Ich blicke entsetzt. „Achtung“, schreie ich dem Hausherrn zu … ich meine innerlich … also unhörbar … „Sei vorsichtig! Pass auf die Zündschnur auf. Um Gottes Willen, sage nichts Negatives. Und wenn du etwas sagen musst, dann lautet der vorgeschriebene Satz: ‚Die Gans schmeckt besser als bei meiner Mutter’!“
Und da kommt schon von der Hausfrau die überflüssige Granate aller Fragen: „Na, wie schmeckt die Gans?“
Der Hausherr kaut noch. Ich kaue noch. Die Kinder kauen auch noch. Alle kauen noch. Natürlich ist der Hausherr in Not. Wahrheit oder Lüge?
Der Hausherr kaut immer noch. Dann schluckt er die Gans ganz hinunter. Ich spüre, es liegt Gefahr in der Luft.
Der Hausherr sucht den Kompromiss und sagt: „Es geht.“
Er nimmt einen großen Schluck Rotwein. Ich proste ihm zu und unterstütze ihn.
Dann sehe ich es: Mit seiner Bemerkung setzt er die Zündschnur in Brand. Die Funken sprühen und fetzen in rasender Geschwindigkeit über den Tisch, bis das Munitionslager im Mund der Hausfrau explodiert. Worte wie Raketen fliegen in Richtung des Hausherrn und er kurbelt wie wild an seiner Flak (für Uneingeweihte: Flugabwehrkanone), bevor er seine Panzer über den Tisch rollen lässt. Aber schon hat die Hausfrau ihre Panzerfäuste in Stellung gebracht und schießt mit ihren Bazookas die Panzer einfach ab. Und schon jagen Tiefflieger schwer mit Bomben behangen auf den Hausherrn zu. Da ordert er seine Langstreckenbomber. Die Hausfrau grinst höhnisch aus ihrem Bunker, denn sie weiß, dass ihre Kriegsschiffe und Flugzeugträger bereits unterwegs sind, um den Rückweg des Hausherrn abzuschneiden …
Das ist mal ein Streit! Mein lieber Scholli, so etwas habe ich lange nicht erlebt. Da gibt’s nur eins: Ich proste noch mal ungefragt in den Wortekrieg, nehme einen tiefen Schluck und ziehe mich diskret lächelnd zurück. Keiner bemerkt meinen Abgang.
Zu Hause angekommen denke ich bei einem Gläschen Rotwein: ‚Au haua haua, das war ja ein Fest! Vielleicht ist alleine Weihnachten feiern doch das Gesündeste!“

Auszug aus:

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Ich liebe diese Geschichten. Plötzlich sitzt oder steht oder sonst was, man, mitten drin, so lustig, grausam, gnadenlos lebendig wird`s…

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