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Mein Goldfischlein 

Es war auf einem Schulfest. Sie musste neu auf unsere Schule gekommen sein. Ich war damals sechzehn und sie wohl auch so um den Dreh. Als ich sie zum ersten Mal sah, kreuzten sich unsere Blicke für einen kurzen Moment. Ein Blitz durchzuckte mein Herz. Sie lächelte mich an. Sofort war ich nervlich am Ende. Trockener Mund, verschwommene Sicht, weiche Knie, unkoordinierte Bewegungen, feuchte Hände, kaum noch in der Lage, meine Cola festzuhalten.
Ich schaffte es, die Form zu wahren, heute würde man sagen: Cool zu bleiben. Mir schien, sie wartete, dass ich sie ansprechen würde. Aber ich schaffte es nicht, denn trotz Cola-Spülung klebte meine Zunge am Gaumen fest.
Als später auf heiße Beat-Rhythmen getanzt wurde, wagte ich mich in ihre Nähe und humpelte mit hochrotem Kopf vor mich hin, was ich damals tanzen nannte. Sie war gertenschlank, hatte auffällig blonde, glatte lange Haare, und mir fiel auf, dass sie mit ihrem Lächeln sparsam umging. Und dass sie mich angelächelt hatte, deutete ich als grandiosen Erfolg, den ich erst einmal verdauen musste.
Abends noch schrieb ich in mein Mathematik Schulheft ein Gedicht, in dem sich die Worte „zierlich“, „zart“, „fragil“, „zerbrechlich“, „schutzbedürftig“ mehrmals wiederholten. Ich habe das Gedicht nie veröffentlicht und schon gar nicht an sie geschickt.
Obwohl ich in den nächsten Tagen in den Pausen überall herumschlich, um sie vielleicht zufällig irgendwo blickmäßig zu erhaschen, vielleicht sogar für einen kurzen Moment ihr seligmachendes Lächeln mich wärmend durchströmen zu lassen, ich sah sie nicht mehr. Nichts! Tote Hose!
Meine Vorstellungskraft, die sowieso schon leicht gereizt werden konnte, explodierte. Da war alles gut, da war alles schön, da war alles wunderbar. So südseeinselig. Also konkret: Ich hatte schon eine Hochzeitsreise nach Hawaii geplant. Ich hatte dort rein vorstellungsmäßig eine Hütte am Meeresstrand gemietet, wo wir tagsüber harmlos Mann und Frau übten, lustig schwammen, uns launisch vollspritzten, im Wasser küssten … Ach, wie das Sonnenlicht in ihrem blonden, nassen Haar blitzte und ich mich in sie hinein küsste und in unendlicher Seligkeit versank. An nachts wagte ich mich auch phantasiemäßig nicht heran. Das war mir doch zu aufregend. Und die Angst, ich könnte eine blamable Performance abliefern, war übermächtig.
Und dann kam das Glück mit großen Schritten auf mich zu. Karlheinz, ein verfetteter Unternehmerssohn aus meiner Klasse, hatte eine Geburtstagsparty organisiert und zur Freude aller Jungs ein paar scharfe Girls eingeladen.
Mein Gott, ich hatte gehofft, gebetet und schließlich geahnt: Sie war dabei! Und wie sie dabei war. Anfangs versteckte ich mich schüchtern vor ihr. Aber dann lächelte sie mich wieder mit ihrem strahlenden Lächeln an und ich wurde immer zutraulicher. Und schließlich tanzten wir zusammen. Meine Klassenkameraden beäugten mich kritisch. Aber sie hatten Respekt vor meinem Mut, diese zarte edle Schönheit in meinen tänzerischen Bann zu ziehen.
Als der Disk-Jockey dann das langsame Lied „Nights in White Satin“ einlegte, stand ich schüchtern vor ihr und wusste nicht, wie ich den anstehenden Stehblues überstehen sollte. Aber als ob nichts dabei wäre, legte sie ihre Arme um meinen Nacken und zog mich dicht an sich. Ich lobte und pries mein Vorhersehen, dass ich eine grobe Bluejeans angezogen hatte, durch die man meine Erregung nicht gleich spüren konnte.
Und dann geschah es: Als nächster Song kam „And then I kissed her“ von den Beach Boys, und der Kuss lag in der Luft. Ich glaube, es war ihr Duft, der mich so betörte, dass ich die Besinnung verlor. Da war keine Schüchternheit mehr. Da war keine neurotische Verklemmtheit mehr. Da war der unbedingte Wille des Mannes in mir, die begehrte Frau zu küssen. Jetzt oder nie! Und ich tat es und für einige Sekunden war ich Mann und sie Frau. Ich begann wild und sie zurückhaltend. Und sofort begann das Spiel: Ich klopfte mit der Zunge wild an ihren Lippen, die sich zögernd öffneten. Ihre Zunge war noch verschreckt und zog sich zurück. Aber meine Zunge suchte sie und dann kam ihre Zunge aus dem Versteck, umschlang mich und trieb mich zurück. Es begann das ewige Hin und Her – wie zwei Schlangen verkeilten sich unsere Zungen. Und dann wurde es zarter und immer zarter und inniger und immer inniger … Oh, seliges Versinken!
In den lockeren Plaudereien in den Tanzpausen erfuhr ich, dass sie auch zu ihrem sechzehnten Geburtstag eine Party organisieren wollte. Das war meine Chance! Ich würde ihr ein Geschenk präsentieren, das sie umhauen würde und das ihr zeigen würde, dass ich der einzige Liebespartner sei, der für sie in Frage käme.
Als ich sie nach der Party zum Bus brachte, bemerkte ich feinnervig, dass ihr meine ewigen Vergleiche mit Pflanzen wir Rose, Jasmin, Orchidee und so weiter auf die Nerven gingen. So schwenkte ich ins Tierreich. Beim Abschiedskuss wählte ich stolz das Kosewort: „Mach’s gut, mein Goldfischlein.“
Sie lachte ein Lachen, das ich nicht genau deuten konnte, aber für mich positiv auslegte.
Nun fieberte ich auf ihre Geburtstagsparty hin. Das Geschenk war mir klar: Es musste ein Schleiergoldfisch sein. Schnell hatte ich alle Informationen zusammen. Auf einem Flohmarkt erstand ich ein bauchiges Goldfischaquarium, natürlich leer. Dann sammelte ich Steinkiesel, füllte original Rheinwasser ins Glas – es roch ein bisschen nach Diesel – drapierte Schlingpflanzen darin, die ich dem Fluss entzogen hatte, und machte es richtig gemütlich. Dann fuhr ich in die Stadt und kaufte von meinem Taschengeld, das ich mir bei der Weinlese durch tüchtige Arbeit aufgestockt hatte, für siebenundzwanzig Mark einen Schleiergoldfisch. Eigentlich wollte ich zwei kaufen wegen der Romantik. Aber dafür reichte das Geld nicht und der Geburtstag war ja schon am nächsten Tag.
Dann bereitete ich mich vor und ging so vorsichtig und geschickt vor, dass ich auf der ganzen Busfahrt zur Party nichts verschüttete. Ich kam etwas zu spät und ihr Gabentisch war schon aufgebaut. Das Übliche: Pralinen, ein Schal, phantasieloses Zeug eben … Und dann packte sie den im Kreise schwimmenden Goldfisch aus. Und unter großem Gelächter allerseits stellte sie die Schüssel zu ihren Gaben. Es wurde eine wilde Party und Cola floss in Strömen. Mir schien es, dass sie ein bisschen distanzierter war. Wahrscheinlich war sie von meinem Geschenk überwältigt und fand keine Worte oder andere Ausdrucksformen, um ihr Entzücken über meinen eindrucksvollen Liebesbeweis darzustellen. Auch mein immer wieder in ihr Ohr geflüstertes „Mein liebes Goldfischlein“ hatte nicht die erhoffte Wirkung bedingungsloser Hingabe ihrerseits.
Die Ernüchterung kam bereits am nächsten Tag. Ich stand sehnsüchtig auf ein Treffen hoffend am Rande des Pausenhofs herum und knabberte süßhungrig an einem Bounty. Die Kokosflocken vermischten sich aufs Köstlichste mit der Schokolade und es schmeckte so süß in meinem Mund, als ob ich sie küsste. Da sah ich sie am anderen Ende des Schulhofs. Aber was war das? Sie trug Lederjacke und Lederhose und unterm Arm einen Sturzhelm. Und zu wem lief sie eiligen Schrittes hin? Um Gottes willen, das war doch Herbie! Herbie war leidenschaftlicher Motorradfahrer, neunzehn Jahre alt, Abiturient und im ganzen Gymnasium gefürchteter und bewunderter Frauenheld.
Ich zog mich zurück in einen Schatten, aus dem ich lieber nicht hervortreten wollte. Die scharfe Kralle Eifersucht umklammerte mein Herz und würgte es. Ich konnte kaum atmen vor Enttäuschung und Verbitterung.
Sie zog den Helm auf, setzte sich hinten aufs Motorrad und die beiden knatterten davon.
Ich schrieb ihr einen zornigen Brief, in dem ich Worte wie „hinterhältig“, „gemein“, „brutal“, „verächtlich“ unterbrachte. Am Ende aber stellte ich die Bedingung, dass wenn wir noch weiter zusammen gehen wollten, sie sich auf mich beschränken sollte.
Ich hörte drei Tage nichts von ihr, dann erreichte mich ein Päckchen. Beklommen und das Schlimmste ahnend öffnete ich es mit zittrigen Händen. Es war der Goldfisch. Vertrocknet. Und die Schleier klebten wie ein Schutzfilm über dem toten Körper. Dazu hatte sie drei Wörter auf Packpapier geschrieben. Worte wie Schwerthiebe: „Es ist aus!“
Es ist nicht ganz sicher, ob ich das Folgende geträumt oder erlebt habe. Auf jeden Fall war es heftig. Ohne zu zögern, ging ich ans Rheinufer und mit Kleidern stürzte ich mich in den hochwasserschlammiggetrübten Rhein und wurde sofort weggerissen. Meine Kleider saugten sich voll und ich schrie um Hilfe. Wie der Zufall es wollte, ging sie mit Herbie am Rhein spazieren. Als sie mich in den Fluten entdeckte, schrie sie: „Nein, nein! Komm zurück! Dein Goldfischlein lebt.“
Und sie sprang ins Wasser, schwamm mir hinterher, fand mich in der schlammigen Brühe, umarmte mich mit einem heißen Kuss, in dem wir noch einmal unsere Seelen spürten und dann gemeinsam untergingen und nie mehr gefunden wurden. Auch in Rotterdam, wo der Rhein ins Meer mündet, waren wir nicht mehr zu finden.
Ich muss zugeben, dass der Schluss allein durch die Tatsache, dass ich ihn heute noch beschreiben kann, den Verdacht nahelegt, dass es doch eher eine Träumerei war. Man soll positiv denken und positiv wünschen. Und so wünsche ich meinem Goldfischlein, wenn sie diese Zeilen liest, das Allerbeste in ihrem Leben. Meines ist für immer verpfuscht. Aber wen interessiert das schon? 

Comments (5)

  1. Dort wo die Story im Leben enden muss, geht das Märchen weiter…: “ Und wenn sie nicht gestorben sind …“ schwimmen zwei Goldfischlein vergnügt im Meer…

  2. Aus Pandora
    Johann Wolfgang von Goethe

    Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist,
    Fliehe mit abgewendetem Blick
    Wie er, sie schauend, im Tiefsten entflammt ist,
    Zieht sie, ach! reißt sie ihn ewig zurück.

    Frage dich nicht in der Nähe der Süßen:
    Scheidet sie? scheid ich? Ein grimmiger Schmerz
    Fasset im Krampf dich, du liegst ihr zu Füßen,
    und die Verzweiflung zerreißt dir das Herz.

    Kannst du dann weinen und siehst sie durch Tränen
    Fernende Tränen, als wäre sie fern:
    Bleib! Noch ists möglich! Der Liebe, dem Sehnen
    Neigt sich der Nacht unbeweglichster Stern.

    Fasse sie wieder! Empfindet selbander
    Euer Besitzen und euren Verlust!
    Schlägt nicht ein Wetterstrahl euch auseinander,
    Inniger dränget sich Brust nur an Brust.

    Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist,
    Fliehe mit abgewendetem Blick
    Wie er, sie schauend, im Tiefsten entflammt ist,
    Zieht sie, ach! reißt sie ihn ewig zurück.

  3. Heute denke ich; wenn sie nur ein Bisschen Tierliebe hätte aufbringen können wäre der schöne Goldfisch wohl länger am Leben geblieben, ich auch. Auf all diese abgründigen Taten, Dummheit en, die ich jahrelang anstellte kann ich nun eigentlich verzichten. Doch, Herr von Goethe muss es ja wissen, wie es ist und kann sich auch noch richtig ausdrücken.

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