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Die Weihnachtsgans

Weihnachten ist psychisch gesehen eine sehr gefährliche Zeit. Aus diesem Grunde möchte ich mit warnenden Ratschlägen nicht hinterm Berg halten. Die meisten Menschen sind jetzt voll im Stress, und um der psychisch schwierigen Zeit zu entgehen, konzentrieren sie sich auf die Vorbereitung der verschiedenen Weihnachtsessen und Weihnachtsgetränke. Ansonsten hoffen sie einfach darauf, dass die menschlichen Begegnungen an Weihnachten schon irgendwie gut gehen werden. Schließlich ist es ja das Fest der Freude. Dennoch wiederhole ich: Es ist Vorsicht geboten. Es ist die dunkelste Jahreszeit. Kalt und finster. Und nach germanischen Sagen suchen uns um diese Zeit die Geister der Ahnen heim und stacheln uns auf und sorgen für Zwietracht unter den Menschen.
Gerade das Aufeinandertreffen langjähriger Verwandter und anderer nicht immer angenehmer Zeitgenossen stürzt all jene, die meine Warnung nicht ernst nehmen, in eine tiefe Weihnachtskrise. Anstatt sich auf menschliche Begegnungen psychisch gut vorzubereiten, beschränken sich die Vorbereitungen der Weihnachtsfeierer auf körperliche Genuss-Planung. Gibt es Gänsebraten oder Karpfen? Hase oder Wildschweingulasch? Mit Rotkraut oder Blaukraut oder Grünkohl oder Gelbwurz? Außer dieser Essensfrage muss die Getränkefrage geklärt werden: Rotwein, Weißwein oder Sekt? Gin, Wodka oder Whiskey? Oder für Oma einen Eierlikör? Wer braucht durch welche Alkoholika welchen Pegel, um festliche Freude zu empfinden? Natürlich alles vom Feinsten und in stapelbare Reservekanister abgefüllt, wie es das Fest gebietet.
Aber Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht. Schnell gibt ein Wort das andere und der Streit ist da. Irgendeiner macht eine wahre Bemerkung, und schon haben wir den Salat. Wer will denn an Weihnachten die Wahrheit hören? Um Gottes Willen, niemand! Ich sage: Ball flach halten! Lehrstunde im Smalltalk, zu deutsch: Kleingespräch. Nichts riskieren. Bei gegensätzlichen Meinungen: Mund halten. Nichts ausdiskutieren. Auf keinen Fall provozierende Reden schwingen.
Wer nun fragt, was um Himmels willen er denn dann bitteschön an Weihnachten reden soll, dem gebe ich sogleich die Antwort: Wäre es nicht passend, eine schöne Geschichte von früher erlebten Weihnachtsfesten zum Besten zu geben? Ich will mit einem Beispiel vorangehen und etwas aus meinem früheren Leben erzählen. Es war vor etwa sechzig Jahren, als ich als Zehnjähriger wieder einmal Weihnachten erlebte.
Die Bescherung am Heiligabend war gut gelaufen. Ich hatte das Theaterstück „Oh, wie ich mich über meine Geschenke freue“ gut durchgezogen und hatte mich nur erkundigen müssen, ob die selbstgestrickten Wollsocken vielleicht doch Fäustlinge waren, um daraufhin durch zähes Nachfragen zu erfahren, dass es zwei selbstgestrickte Skimützen sein sollten. Auch mein Schwesterchen spielte ihre Rolle gut und freute sich scheinbar maßlos über ein selbstgenähtes Puppenkleid, was aber eigentlich ein Hosenanzug war, von dem wir beide wussten, dass sie ihn der Puppe nie antun würde.
Vater hatte relativ früh den Pegel der Glückseligkeit ertrunken und Mutter hatte früh die Segel gestrichen. Sie hatte einfach mit den Weihnachtsvorbereitungen zu viel zu tun gehabt.
Der Höhepunkt aber, von dem ich ausführlich erzählen will, war natürlich am ersten Weihnachtsfeiertag die Weihnachtsgans. Wie jedes Jahr hatten wir alle Hoffnung, dass wir in diesem Jahr heil das Mittagessen am ersten Weihnachtsfeiertag überstehen würden. Das war nämlich verdammt kritisch. Jahr für Jahr begannen meine Eltern bei diesem Mittagessen einen Streit. Aber vielleicht hatten wir dieses Jahr Glück? Nun der Reihe nach! Vater hatte noch kaum etwas getrunken und Mutter hatte sich am Backofen die rechte Hand verbrannt. Aber das Rotkraut schmeckte gut und auch der Kartoffelbrei war schön sahnig. Aber das alles war nur Vorgeplänkel. Die Frage aller Fragen lautete: Wie würde die Gans schmecken? Im Großen und Ganzen schmeckte sie passabel. Gut, möglicherweise ein bisschen zu zäh. Aber für jemanden, der gewohnt sein sollte, sechsunddreißig Mal zu kauen, war das wirklich kein ernsthaftes Problem. Nur mit dem Schlucken wurde es schwierig …
Wir saßen also kreuzweise am Tisch: Mutter meinem Vater gegenüber, ich meiner Schwester gegenüber. Aber was war das? Da rollte ganz langsam eine Zündschnur aus Mutters Mund und schlängelte sich quer über den Tisch in Richtung Vater. Meine Schwester und ich blickten entsetzt.
„Vater“, schrien wir beide … ich meine innerlich … also unhörbar … „Sei vorsichtig! Pass auf die Zündschnur auf. Um Gottes willen, sage nichts Negatives. Und wenn du etwas sagen musst, dann lautet der vorgeschriebene Satz: ‚Die Gans schmeckt besser als bei meiner Mutter’!“
Wir starrten gebannt auf die Zündschnur. Würde Vater sie trotz all unsrer telepathischen Warnungen anzünden? Oder würde er es dieses Jahr schaffen, Diplomatie walten zu lassen? Ich glaube, vorgenommen hatte er sich’s. Aber dann kam von Mutter die Granate aller Fragen: „Na, wie schmeckt die Gans?“
Vater kaute noch. Ich kaute noch. Meine Schwester kaute noch. Wir beriefen uns alle auf das Tischgesetz: Mit vollem Mund spricht man nicht. So hatten wir ein bisschen Zeit gewonnen.
Natürlich war Vater in Not. Wahrheit oder Diplomatie? Ich versuchte ihn magisch zu beeinflussen und funkte ihm telepathisch rüber: „Vater, im Allgemeinen darf man nicht lügen. Aber an Weihnachten verzeiht das Christkind alles!“
Meine Schwester hatte das zähe Fleischteil unauffällig ausgespuckt und irgendwo im Kartoffelbrei vergraben. Jetzt schloss sie die Augen, und da sie als Teilnehmerin des weiblichen Geschlechts von Natur aus mehr Magie entfalten konnte als ich, war ich sicher, dass sie dem Vater telepathisch funkte: „Vater, beherrsche dich und sag lieber nichts!“
Auch ich hatte inzwischen die Gans (bestand sie denn nur aus Sehnen und Knorpeln?) im Rotkraut begraben.
Dann schluckte mein Vater die Gans hinunter. Oder sollte ich sagen: Er würgte sie hinunter?
Vater suchte den Kompromiss und er sagte: „Es geht.“
Oha! Meine Schwester und ich sahen es: Mit dieser Bemerkung hatte er die Zündschnur in Brand gesetzt. Die Funken sprühten und fetzten in rasender Geschwindigkeit über den Tisch, bis das Munitionslager in Mutters Mund explodierte. Worte wie Raketen flogen in Vaters Richtung und er kurbelte wie wild an seiner Flugabwehrkanone und schoss mit gleicher Wucht zurück.
Irgendwann kam es irgendwie zu Friedensverhandlungen. Aber eins ist sicher: In einem Krieg gibt es keine Gewinner, nur Verlierer. So auch hier. Die gemütliche Weihnachtsstimmung war dahin und ließ sich auch durch Erreichen des Pegelstands der Glückseligkeit auf Vaters Seite und Auftragen von Salbe zur Behandlung von Brandblasen an Mutters Händen nicht mehr wiederherstellen.
Die beiden lasen später noch irgendeine Geschichte vom Fest der Liebe und so vor. Ehrlich gesagt, es mangelte ihnen beim Vorlesen etwas an der überzeugenden Begeisterung.
Aber auch heute nach sechzig Jahren gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass an Weihnachten ein Lichtlein im Herzen aufgeht, von dem aus sich Freude ausbreitet, so dass Weihnachten das wird, was es schon immer sein wollte: Ein Freudenfest der Liebe.

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