Abschied mit Wiederkehr
Jeder Abschiedsbriefschreiber ist im Dilemma. Auf der einen Seite will er den Abschied dramatisch und unbedingt endgültig beschreiben, auf der anderen Seite will er sich am Gesicht des Verabschiedeten laben. Der Abschiedsbriefschreiber stellt sich genüsslich und stundenlang vor, wie er tot aufgebahrt daliege und allen Freunden, die ihn zeitlebens missverstanden haben, würde es wie Schuppen von den Augen fallen, was für ein guter, ja, fast heiligmäßiger Mensch sich nun verabschiedet hat, und zwar für immer. Und genau da ist der Haken. Man müsste einen Abschied schaffen, in dem man zwischen den Zeilen durchblicken lässt, dass man wiederkommt. Aber wenn man dann wiederkommt, und den Freunden wurde angekündigt, dass man wiederkommt, so ist das ohne Effekt. Also muss ich, um aus dem Dilemma herauszukommen, dem Abschied ohne Wiederkehr einen Abschied mit Wiederkehr entgegenstellen.
Ich stelle mir das so vor: Ich liege aufgebahrt im Wohnzimmer eines Freundes, der in meinen Bluff eingeweiht ist. Dann kommen meine trauernden Freundesscharen und beweinen meinen Weggang ohne Wiederkehr, wie sie glauben, und sie sprechen ihre wahren Gefühle aus und lassen hemmungslos ihre Tränen laufen. Ich, gut totenmäßig geschminkt, die Hände über der Brust gefaltet, lausche still vergnügt ihrem Schmerz und denke: „Das geschieht euch allen recht.“
Und wenn sie dann genug getrauert haben, spiele ich meine Wiederauferstehung mit gekonnt dramatischem Mienenspiel und dramatisch komischer Gestik. Sie sind erschüttert, denn ihnen wird eines klar: Sie erkennen an ihrer unfassbaren Freude über meine Rückkehr, wie sehr sie mich geliebt haben. Und jetzt öffnen sich überall die Türen, und angeheuerte Kellner schieben volle Rolltische herein zu einem Buffet, das einem Leichenschmaus alle Ehre machen würde. Und dann erhebe ich mich als Leiche a.D. und schreite zum Buffet und nehme den ersten Bissen unter den Freudentränen meiner wahren Freunde ein.
Ich bin ein Mensch, der Dinge ausprobieren muss, um Erfahrungen zu sammeln. Ich bin ganz wild auf Erfahrungen. Und also plante ich ein Experiment. Ich wollte meinen Abschied mit Wiederkehr unbedingt ausprobieren und tat es auch. Aber es kam völlig anders, als ich es mir ausgemalt hatte.
Als ich mich aus meinem Sarg erhob, gab es keine Freudenschreie: „Juhu, er ist wieder da!“ Keine schmatzenden Küsse auf meine Wangen: „Gut, dass alles nur ein Spiel war!“ Keine Jubelrufe, kein eifriges Zuprosten: „Auf dein neues Leben!“ oder so …
Sondern was war das? Pure Aggression stand in ihren Augen, in ihrem Gesicht, in ihren Fäusten. Ich hatte sie hereingelegt mit etwas, womit man nicht spielen darf: Dem Tod. Ich hatte ein Tabu gebrochen. Ich hatte den Tod ganz dicht ins Leben hineingezwängt. Auch wenn es nur ein scheinbarer Tod war: Im ersten Moment hatte jeder an den echten Tod geglaubt und darauf reagiert mit entschiedener Abwehr. Und plötzlich kippte die Stimmung und auf mich flogen die vollgeheulten Taschentücher und das köstliche Gemüse und Obst, das für den Festschmaus aufgebahrt war. In letzter Sekunde rettete ich mich in den noch aufgeklappten Sarg, schloss den Deckel über mir und hörte die prasselnden Geräusche des auf mich geschmissenen Wurfguts.
Ich wartete geduldig, bis sich das Prasseln gelegt hatte und Essgeräusche überhand nahmen. Dann öffnete ich ganz vorsichtig meinen Deckel. Er war jetzt weitaus schwerer. Denn Gemüse und Obst hatten sich zermanscht versammelt. Ich ruckelte, um freizukommen, am Deckel. Da passierte es. Anstatt wegzurutschen, rutschte das zerschundene Obstgemüse direkt auf mich drauf!
Als ich mich bekleckert erhob, lachte sich die Meute tot. Ich war froh, dass sie mir meinen makaberen Scherz nicht weiter übel nahmen. Meinen Diskussionsvorschlag, einmal den Blick auf den eigenen Tod zu lenken, lehnten sie allerdings unisono ab.
„Okay“, dachte ich ärgerlich bei mir, „dann lasst euch vom Tod eben unvorbereitet überraschen.“
Ich kann noch so dramatisch (mehrmals) mich verabschieden von diesen Leuten denen ich nichts bedeute; die sind doch froh ,dass ich endlich gehe.