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6. „Du kennst dich nicht“

Wieder einmal saßen der Letzte Lehrer und seine wenigen Schüler zusammen. Gemeinsam hatten sie einen Spaziergang unternommen, der sie aber nicht allzu weit geführt hatte.
Nun saßen sie im Kreis und der Letzte Lehrer wartete auf die begeistert gestellte Frage, die er gerne beantworten wollte.
Die Stimmung war recht angespannt, denn die Schüler spürten, daß der Letzte Lehrer mit ihnen nicht zufrieden war. Diesen Zustand schätzten sie nicht besonders. Sie spürten, daß es notwendig war, eine Frage zu stellen, um die Laune des Letzten Lehrers zu verbessern.
Also fragte ein Schüler: „Häufig sagst du zu uns, daß wir uns nicht kennen. Was meinst du damit, wenn du sagst: ‘Du kennst dich nicht’?“
Der Letzte Lehrer freute sich nicht über diese Frage im Speziellen – denn er hatte sie schon oft beantwortet – sondern über die Tatsache, daß überhaupt eine Frage gestellt worden war.
Also antwortete er geduldig: „Es ist ein großer Fortschritt für einen Menschen, wenn er davon ausgeht, daß er sich nicht kennt. Aber leider geben sich die meisten Menschen immer wieder der Illusion hin, daß sie sich kennen würden. Ich will euch einige Beispiele liefern, in denen euch klar werden wird, daß der Mensch sich nicht kennt. Wenn jemand beispielsweise eine Reise macht, was nimmt er alles mit? Zu viele Kleider, die er nicht tragen wird, zu viele Bücher, die er nicht lesen wird, zu viele Hygienemittel und Medizin, die er nicht brauchen wird. Warum? Weil er sich nicht kennt. Wenn beispielsweise ein Mensch abends zu sich selbst sagt, daß er am nächsten Tag in aller Frühe aufstehen wird, um Körperübungen zu machen, dann wird er sich sehr wundern, wenn er am nächsten Morgen aufwacht und sagt, daß es doch viel gemütlicher wäre, noch weiter zu schlafen. Ein anderes Beispiel: Der Mensch nimmt sich vor, ab sofort mehr zu arbeiten, und schon im nächsten Moment liegt er faul auf dem Sofa mit der Begründung, daß er nichts überstürzen will. Er sagt, er höre auf zu rauchen, und schon hat er eine Zigarette im Mund. Diese Verhaltensweisen, die wir alle kennen und die unser Leben bestimmen, sind nur möglich, wenn der Mensch sich selbst nicht kennt. Sich dies einzugestehen ist der erste Schritt.“ Die Schüler blickten betreten unter sich. Keiner legte Wert darauf, dem Letzten Lehrer jetzt in die Augen zu schauen.

aus: Johannes Galli – Der Letzte Lehrer – 108 Momente der Weisheit | Kurzgeschichten | Freiburg 2009 | S. 23 – 24  | © Galli Verlag e.V.

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