Der Klassenclown (Teil 3)
Endlich! Im dritten Teil der Fortsetzungsgeschichte „Der Klassenclown“ wird die große Wende vorbereitet. Eine Lebenserfahrung, die ich immer wieder machen durfte: Wenn ich mein Scheitern aus ganzem Herzen angenommen hatte, lachte mir völlig überraschend das Lebensglück zu. So, als ob es ein Gesetz sei, das ich in einem forschen Aphorismus formulieren will: Wer sein Scheitern annimmt, hat es bereits überwunden!
Viel Spaß beim Lesen!
Der Klassenclown (Teil 3)
(…) Justamente, als ich aufgegeben hatte, öffnete sich plötzlich eine Türe, die ich bislang gar nicht in Betracht gezogen hatte.
Um den Moment meines völlig überraschenden Triumphes gut verständlich zu schildern, will ich etwas weiter ausholen.
Der Englischlehrer für unsere Klasse war ein echtes Original, das heißt, er hatte Eigenarten entwickelt, die außer ihm niemand mehr nachvollziehen konnte. Seine Schuhe waren sicherlich um die Jahrhundertwende einmal modisch gewesen und sein hellbrauner Anzug passte vorzüglich zum kackbraunen, wenig kundenfreundlichen, karierten Englischbuch.
Dr. Rinnecker war ganz er selbst und aus einem Grund, der nur ihm und auch das wahrscheinlich nur recht unbewusst klar war, knödelte er seine Stimme. Es war, als ob ihm irgendjemand den Hals zudrückte und er dagegen anschreien musste, aber trotz aller Anstrengung nur einen gepressten Ton hervorbrachte.
Vielleicht ist es zum besseren Verständnis meiner im Folgenden beschriebenen, weitreichenden Tat nötig, auf die Gründe meiner früh entwickelten, präzisen Menschenbeobachtung einzugehen.
Da mir Eltern und Großeltern weder Bildung noch Wissen vermitteln konnten, wuchs ich in meinem kleinen Leben still beobachtend neben ihnen her. Ich begriff früh, dass ich mein Welt- und Wirklichkeitsverständnis aus all jenen Menschen herauslesen musste, die meinen Lebensweg mehr oder weniger zufällig kreuzten. Ich kam ihnen nach und nach auf die Schliche: Sie nutzten Worte, Wissen und Bildung ausschließlich, um ihre eigene Wirklichkeit zu verschleiern. Mit meinem kindlich wachen Gefühlsleben konnte ich die ungeschminkte Wirklichkeit der anderen sicher erspüren und ihren Wortnebel durchdringen. Zwar war ich in nahezu allen Lebenssituationen immer und überall überfordert, weil ich nie wusste, wie, wo und was die Umgangsformen vorschrieben, aber in der Wahrnehmung menschlicher Wirklichkeit wurde ich immer souveräner.
Soweit zur Einschätzung meiner charakterlichen Qualitäten, die ich hier erwähne, um der Leserin und dem Leser zu ermöglichen, meinen folgenden „Auftritt“ besser zu verstehen.
Also flugs zurück in jene Englischstunde, die die Wende brachte. Dr. Rinnecker war ein Mensch, den ich deswegen immer genau beobachten musste, weil ich mich kaum in meiner eigenen Sprache ausdrücken konnte und dementsprechend auch schlecht in Englisch war, und er also mein naturgesetzlicher Feind war und, wie wir sehen werden, ich auch sein Feind.
Es ist ausgesprochen hilfreich, wenn man seinen Feind gut kennt. Eine seiner vielen feststehenden Redensarten, mit denen er spontane und flüssige Sprechweise vortäuschte und überflüssige Redebeiträge einleitete, war: „Aufgemerkt nun also!“, und dabei schnellte sein Zeigefinger in die Höhe. Er nutzte die Einheit von Geste und gesprochenem Wort immer dann, wenn er auf etwas, wie er meinte, Wichtiges hinweisen wollte.
Genau dieser Ausruf: „Aufgemerkt nun also!“ drang eines schönen Vormittags an mein Ohr und torkelte wenig ernst genommen und schon gar nicht auf mich bezogen in meinem Hirn umher, als ich gerade in der Frage versunken war, welchen geheimnisvollen Winkel ihre edle Nase zu ihrer Stirn bildete. Als das „Aufgemerkt nun also!“ sich wiederholte, klang es so nahe, dass es mir eine Reaktion abzwang. Also hob ich meinen Kopf, der scheinheilig über einem mir völlig unverständlichen englischen Text herumgehangen hatte, und blickte entlang eines braunen Anzugjacketts hin zum taubenblauen Hemd, über dessen Kragen ein truthahnähnlicher Hals rote Wellen schlug. Mutig blickte ich noch weiter hoch. Kaum hatte ich allerdings meinen Blick in seinen unheilvollen getaucht, da wollte ich schnell forttauchen, abtauchen, wegtauchen. Aber das ließ er nicht zu. Streng hielt er meinen Blick fest und knödelte wild drauflos: „Galli, aufgemerkt nun also, what did William the Conquerer do in the year 1066?“
Diese Frage traf mich vollständig unvorbereitet, aber ehrlich gesagt, auch vorbereitet hätte ich wahrscheinlich keine Antwort parat gehabt.
Anfangs stocherte ich kaum motiviert und wenig hoffnungsfroh in meinem von mächtigen Wissenslücken durchzogenen Hirn herum. Um Zeit zu gewinnen, gab ich mich nachdenklich. Und wirklich, ich dachte angestrengt nach: Was machte denn Wilhelm damals? Vielleicht hatte er die Spartaner besiegt, aber war das nicht Cäsar? Vielleicht hatte er gegen Alexander den Großen gekämpft, aber der hatte doch die Kelten besiegt? Oder hat er Rom gegründet, aber Wilhelm klingt doch nicht italienisch? Irgendwann in diesem unnützen Gedankenstrudel trat hoffnungsloser Stillstand ein und Aussichtslosigkeit paarte sich mit trotzigen Anmerkungen zum Erziehungssystem im Allgemeinen. Was interessierte mich, was dieser Wilhelm Nochwas vor 900 Jahren tat? Ich hätte lieber gewusst, was ich heute, 900 Jahre später, tun könnte, um meine Angebetete zu erobern.
Die Augen von Dr. Rinnecker suchten meinen Blick und bohrten sich dann, als ich hinschauen musste, bösartig in mich hinein. Er wollte unbedingt eine Antwort, da er aber bereits spürte, dass er keine bekommen würde, und trotzdem weiter darauf beharrte, wusste ich, er wollte Krieg.
„What did William the Conquerer do in the year 1066?“, wiederholte er aufsässig, und Spuckebällchen bildeten sich in seinen Mundwinkeln.
Ich bemerkte, wie sich die Blicke der Mitschüler langsam auf mich richteten.
Jeder spürte, da lag etwas in der Luft. War ich bislang noch der Neue gewesen und hatte eine gewisse Schonzeit für mich in Anspruch nehmen können, so musste ich jetzt Farbe bekennen. Mit seinem feinen Gespür für Menschen, die schwächer waren als er, hatte sich Rinnecker nun auf mich gestürzt.
„Was machte Wilhelm der Eroberer im Jahre 1066?“, fragte er lauernd milde. Wie, warum sprach er plötzlich deutsch? Zweifelte er, ob ich den englischen Satz überhaupt verstanden hatte, überhaupt englisch sprechen konnte?
Die Stille im Klassenzimmer knisterte. Ich wusste, ich war dran, so oder so. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn und liefen mir die Schläfen entlang über die Wange und den Hals und verschwanden dann endlich, hoffentlich ungesehen, im Kragen. Kurz überlegte ich, ob ich, um Zeit zu gewinnen, die Frage wiederholen sollte, aber ich befürchtete, bei dem Eigennamen William the Conquerer so viele Aussprachefehler zu machen, dass meine Inkompetenz sofort offenbar werden würde.
Dann geschah es! (…)
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