Beinah wäre Schluss gewesen
Vorspiel:
Es war Dienstag, der 1. Oktober 2024. Der Tag hatte eigentlich gar nicht schlecht begonnen. Weder das Wetter noch der Hallenbadaufenthalt ließen die Katastrophe ahnen, in die ich geraten sollte.
Vom Hallenbad wurde ich gemütlich in unserem Behindertentransportfahrzeug nach Hause gefahren. Am Steuer saß Daisy, rechts neben ihr Heidrun, und Viviane saß hinter Heidrun. Im Laderaum des Transporters lag ich in meinem Rollstuhl, der weit nach hinten gekippt die harten Schläge, die durch die schlechten Wiesbadener Straßen entstehen, ein wenig auffängt.
Der Schicksalseinbruch:
Urplötzlich, denn ich bin blind, schlug etwas auf mich ein. Ein mächtiger Stoß vor die Brust. Als ob ein Mensch mir mit einer Keule einen Hieb versetzte. Und zwar genau dort, wo mein Sicherheitsgurt mit Gewalt versuchte, mich zu halten.
Ich hörte Schreie, ein Rumsen und Bumsen, dann stand das Auto still. Auch ich war ganz still. Und aus den folgenden aufgeregten Schreien musste ich mir das zusammenreimen, was geschehen war.
Unser Auto war auf der Hauptstraße mit ca. 40km/h unterwegs und gerade über eine grüne Ampel gefahren, als aus einer Seitenstraße von rechts ein Auto direkt vor das unsere schoss. Trotz Daisys Vollbremsung fuhr unser Auto mit voller Wucht in die Fahrerseite des anderen Autos.
Daisy legte sofort den Parkgang ein und zog die Handbremse, sprang aus dem Auto und riss die Seitentür auf, um nach mir zu sehen. Sie hatte, wie sie später erklärte, gleich in den Rückspiegel geschaut und mich dort nicht wie üblich gesehen und war zutiefst erschrocken. Ich hing ein Stück nach vorne gerutscht in meinem Rollstuhl, deshalb lag mein Kopf tiefer und außer Rückspiegelsichtweite. Ich signalisierte meinen Mitfahrerinnen, dass ich okay sei. Dennoch waren sie aufgeregt und wollten mich so schnell wie möglich wieder richtig in meinen Rollstuhl setzen. Zwischendrin rief Daisy noch dem unfallverursachenden jungen Fahrer, der inzwischen aus seinem Auto ausgestiegen war – nennen wir ihn Till – aufgewühlt zu, dass sie im Wagen einen Behinderten transportiere und diesen schnell versorgen müsse.
Ich sagte den mich versorgenden Damen noch, dass sie beim mich hochziehen vorsichtig sein müssten, da ich sehr starke Schmerzen in der Brust hatte.
Dann ging alles schnell. Daisy öffnete die Heckklappe, schnallte mich ab und dann hievten Vivi und Daisy mich mit vereinten Kräften zurück in meinen Sitz. Heidrun war inzwischen auch dazu gekommen und setzte meine Füße zurück auf die dafür vorgesehenen Klappen. Nun war ich sicher davor, noch weiter aus dem Sitz zu rutschen. Aber die Schmerzen in der Brust wurden immer stärker.
Daisy ging nun immer wieder zwischen Unfallstelle am vorderen Ende des Autos und mir am hinteren Ende des Autos hin und her. Ihre erste Meldung war noch etwas unzusammenhängend: „Leute, das ist echt heftig. Beide Autos sind total eingedetscht.“
Nach und nach erkannten Daisy und Heidrun, dass die Fahrerseite des Autos vor uns komplett eingedellt war und sein Airbag aufgegangen war. Bei unserem Auto war von vorne gesehen die gesamte linke Lichtanlage zertrümmert und die Stoßstange von links nach rechts geschoben, das VW Emblem war aus der Fassung gerissen, die Motorhaube nach oben aufgestülpt und die Fahrertür ließ sich nur noch mit viel Kraft einen Spalt öffnen. Außerdem lief aus dem Motorraum immer schneller eine schäumende Flüssigkeit.
Die Schuldfrage musste gar nicht diskutiert werden, denn Till wusste so gut wie wir, dass er der Unfallverursacher war. Er rief auch von sich aus die Polizei an, um alles aufzunehmen, und fragte, ob wir einen Krankenwagen bräuchten, was wir verneinten. Er stellte auch ein Warndreieck in sicherer Entfernung auf, das ihm eine blonde junge Frau, die mit ihrem Auto auf der anderen Straßenseite stand und sich zu uns gesellt hatte, hilfsbereit gebracht hatte. Warum diese uns unbekannte junge Dame so hilfsbereit war, stellte sich erst später heraus.
Wir überlegten erst, zu checken, ob der Motor anginge, um nach Hause zu fahren. Doch ein herbeigeeilter Passant rief Daisy zu: „Mach nicht den Motor an. Dir ist die Kühlflüssigkeit ausgelaufen. Du jagst den Motor in die Luft.“
Ich konnte mit meinen Schmerzen und in der Kälte nicht im ungeheizten Auto bleiben. Und so luden Vivi und Daisy mich aus dem Fahrzeug aus und rollten mich in Absprache mit Till und Heidrun im Rollstuhl 20 Minuten durch die Kälte über holprige Wege nach Hause.
Heidrun blieb samt Auto vor Ort, um alles mit der Polizei zu regeln.
Durchgefroren, durchgeschüttelt und mit immer stärker werdenden Schmerzen in der Brustgegend kam ich schließlich zu Hause an. Nun wurden wir immer wieder von Heidrun angeschrieben oder angerufen, die uns stichwortartig die Geschehnisse mitteilte. Die erste Mitteilung war, dass der Notarztwagen eingetroffen sei. Die Sanitäter checkten Till, der aber keine dramatischeren Verletzungen zu haben schien. Sie warteten auch noch eine ganze Weile, ob wir anrufen würden, um sie noch zu uns zu holen, um mich durchzuchecken. Aber ich verzichtete darauf.
Die Polizei ließ auf sich warten. Als sie endlich angekommen war, musste Daisy als Fahrerin Heidrun ihre Daten durchgeben und Personalausweis- und Führerscheinfotos schicken.
Unfallursache:
Doch wie hatte es überhaupt zu dem Unfall kommen können? Wieso war Till aus der Seitenstraße vor unser Auto geschossen? Dies fand Heidrun erst im Gespräch mit der Polizei heraus, wo sich plötzlich die blonde junge Frau von der anderen Straßenseite einklinkte. Und die junge Dame erzählte bereitwillig: Sie hatte erst seit einem halben Jahr ihren Führerschein und hatte sich am Vormittag an einer ähnlichen Kreuzung geärgert, dass ihr keiner geholfen habe, zu erkennen, ob die Straße frei sei. So wollte sie eine gute Tat vollbringen und hatte Till gewinkt, dass die Straße frei sei und er ungehindert fahren könne. Sie hatte unser Auto übersehen und auch Till hatte uns nicht gesehen, ihr vertraut und war mit voller Wucht vor unser Auto gebrettert.
Das Nachspiel:
Die Polizei ließ Heidrun trotz des sichtbar enormen Schadens noch mit dem Auto fahren, damit sie es gleich zur Werkstatt bringen könne, die sich direkt neben unserem Theater in der Adelheidstraße befindet und das Auto bereits gut kennt.
Erst in der Werkstatt wurden wir über das volle Ausmaß des Schadens aufgeklärt: Der Aufprall war so heftig gewesen, dass eine doppelte Metallwand verbogen worden war und der gesamte Inhalt unter der Motorhaube 10 cm von links nach rechts geschoben worden sei. „Sie hatten wirklich Glück“, wurde uns gesagt, denn „wenn das andere Auto nur ein bisschen weiter hinten gewesen wäre, wäre Schluss gewesen.“
Der Fachmann bei der Autowerkstatt stellte sogleich fest, dass hier ein Totalschaden vorliege, da die Reparatur mehr kosten werde, als das Auto noch wert sei. Da es jedoch noch nicht viele Kilometer auf dem Kasten habe und behindertengerecht umgebaut sei, würde man dennoch versuchen, es zu reparieren und für uns wiederherzustellen. Dies, so schätzte er, werde mindestens einen Monat dauern.
Einen Monat?! An Schwimmen war für mich zunächst ohnehin nicht mehr zu denken. Aber am nächsten Tag schon hatte ich Dialyse. Wie sollte ich dort hin kommen? Eine Fahrt mit einem „professionellen“ Fahrdienst war für mich nicht auszudenken. Ich kenne diese Fahrer, die einen im Rollstuhl ruppig herumwuchten, und die Fahrt in einem solchen Auto auf hartem Rollstuhl ist schon ohne Verletzungen kaum auszuhalten.
Die Versicherung des Unfallverursachers würde uns selbstverständlich ein Ersatzfahrzeug stellen. Aber würden sie so schnell ein behindertengerechtes Auto finden?
Heidrun rief bei verschiedenen Autovermietungen an, doch es sah zunächst nicht gut aus. Erst am Mittwochmorgen erreichte sie endlich eine Autovermietung, die ein solches Auto hatte und tatsächlich auch gerade schon von der Versicherung informiert worden war, die deutschlandweit nach einem Ersatzauto für uns suchte. Die Vermietung hatte ein passendes Auto in Chemnitz und leitete schnellstmöglich alles in die Wege.
Das Auto musste auf einem Abschleppwagen nach Wiesbaden gefahren werden, da der Fahrer sonst nicht mehr am selben Tag nach Chemnitz zurück käme. Eine entsprechende Bemerkung über die Deutsche Bahn ist an dieser Stelle wohl kaum nötig …
Obwohl die Autovermietung noch keine schriftliche Bestätigung der Versicherung hatte, schickten sie freundlicherweise das Auto los, das wie erwartet natürlich in allerlei Staus geriet und mit zwei Stunden Verspätung in Wiesbaden eintraf.
Immerhin, es kam noch so rechtzeitig an, dass ich wenn auch verspätet, so doch sicher in die Dialyse gefahren werden konnte. Die Fahrt dauerte statt der üblichen acht Minuten über zwanzig Minuten, da die Straßen in Wiesbaden dermaßen katastrophal sind, dass wir teilweise nur mit 10km/h fahren konnten, um die Schläge in einem für mich halbwegs erträglichen Maß zu halten.
Meine anfänglich durch den schweren Schock verhinderten Schmerzen kamen langsam zum Vorschein. Quetschungen, Prellungen, allüberall. Auf mein geliebtes Schwimmen werde ich wohl Wochen und Monate verzichten müssen.
Die Interpretation:
Eine junge hübsche Frau hatte ihren Gutmensch aktiviert und einem gutaussehenden Fahrer gewinkt, dass er ungehindert von der Seitenstraße die Kreuzung überqueren könne. Weder sie hatte uns gesehen noch er. Wahrscheinlich hatten sie für einen kurzen Moment sich tief in die Augen geschaut. Und das hatte gereicht. Und es knallte und bumste in meinen Ohren. Und mein erster Gedanke war, dass eine Person mit geballter Kraft auf mich zu sprang und mir mit der Keule auf die Brust schlug. Ja, ich habe viele Feinde, die bewusst oder unbewusst Aggressionen gegen mich kaum verheimlichen können.
Wer den Text bis hierher gelesen hat und mich kennt, wird aufgefordert, sein aggressives Potenzial gegen mich zu überdenken. So bietet der Unfall für viele die Möglichkeit, über aggressives Potenzial und wohin damit nachzudenken.
Viel Spaß dabei!
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