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Das zerpflückte Vaterunser

Nun bin ich weit vor über einem halben Jahrhundert durch Zufall in eine streng katholische Familie hineingeboren und wurde nicht gefragt, zu welcher Kirchengemeinschaft ich gehören wollte, sondern wurde zwangsverpflichtet, den katholischen Glauben als den meinen anzunehmen. Die Frist von meiner Geburt bis zur zehn Tage später darauffolgenden Taufe musste ich widerspruchslos verstreichen lassen, da ich mich in den ersten Jahren meines Lebens in einer verbalen Ausdruckskrise befand.
Sehr zu meinem Unwillen wurde mir kaltes Wasser über meinen Kopf geschüttet und irgendjemand sprach in Lateinisch Worte, die ich genauso wenig verstand wie deutsche Worte. Ich vertraute aber irgendwie darauf, dass der Taufpriester keinen Blödsinn redete.
Soweit, so gut. Mein Leben verlief recht ereignislos und ich hatte eine Menge Zeit, um meine Glaubenszugehörigkeit bei jeder günstigen Gelegenheit zu vergessen.
Da flatterte mir doch neulich ein Email ins Haus, in dem meine Brieffreundin Ingeborg mich mir nichts, dir nichts zu einer Stellungnahme über das christliche Urgebet nötigte.
Da ich mich sofort überfordert sah, nutze ich hier die Möglichkeit, meinem kleinen Kreis von Followern diesen geistig spirituellen kritisch literarischen Leckerbissen, den meine Freundin mir geschickt hatte, zu präsentieren: 

„Vater unser“
Wer ist er denn? Und dazu das Ganze noch so männerlastig? Und das in unserer gendernden Zeit?
„Der du bist im Himmel“
Wo soll das denn sein?
„Geheiligt werde dein Name“
Wozu, wenn er eh schon heilig ist?
„Dein Reich komme“
Keine Ahnung, was da kommen soll?
„Dein Wille geschehe“
Was will er denn? Will ich das?
„Unser täglich Brot gib uns heute“
Schön wäre es. Aber dafür musste ich immer selbst sorgen.
„Und vergib uns unsere Schuld“
Da gibt es nichts für ihn zu vergeben. Das regle ich schon selbst.
„Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“
Auch das kann ich allein.
„Und führe uns nicht in Versuchung“
Wer immer er ist, auf jeden Fall ja wohl heilig? Warum sollte er das dann tun?
„Sondern erlöse uns von dem Übel“
Welchem Übel? Meinen eigenen Scheiß will und muss ich immer selbst wegräumen, oder? Das nennt man ja wohl richtigerweise Selbstverantwortung, oder?
Selbst wenn ich dieses Gebet meinem eigenen höheren göttlichen Wesen zumute, kann ich keinen mich erhebenden oder erbauenden Wert erkennen.
Natürlich wäre ich glücklich, wenn Du mir beipflichten würdest. Etwa mit einem „Ah ja, so habe ich das ja noch nie gesehen!“
Da ich die Kraft und hohen Energien von Ritualen kenne und auch unsere kindlichen Hoffnungen, dass es der Papa schon wieder richten wird, werden die Menschen dieses Vaterunser bestimmt noch weitere Jahrtausende ohne nachzudenken vor sich hin brabbeln.
Auch gut. Ich bete es jedenfalls schon lange nicht mehr mit. 

So höflich und beinahe liebevoll um meine Meinung gefragt, will ich meiner Freundin hier über diesen öffentlichen Weg spontan antworten: „Ich pflichte dir bei: Ah ja, so habe ich das ja noch nie gesehen!“

Comments (1)

  1. Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich bin mächtig stolz drauf, dass ich meine Weisheit hier mal öffentlich kundtun kann; wenn einer hier einen Ahaeffekt hat, dann bin es doch ich: „Ah ja, so habe ich das ja noch nie gesehen!“ pflicht Ich bei.

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