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Gut oder Böse 

Neulich besuchte mich mal wieder meine Tochter Evelyn-Marie. Sie brachte mir ihren Sohn, also meinen Enkel, damit er mit mir zu Mittag speisen könnte. Mein Enkel Paul-Hendrik ist neun Jahre alt und für sein Alter schon ziemlich klug. Evelyn-Marie übergab ihn in meine Obhut mit der Bemerkung: „Paul-Hendrik hat eine wichtige Frage. Sie reicht ins Politische. Und da du ja den ganzen Tag nichts zu tun hast …“ – sie spielte auf meine Frührentnerkarriere an – „… kannst du ihm etwas erklären, was ihn politisch sehr beschäftigt.“
Kaum war Evelyn-Marie fortgegangen, sie wollte zum Friseur, da holte ich eine tiefgekühlte Salami Pizza aus dem Gefrierfach, erhitzte sie im Backofen, stellte zwei Malzbier auf den Tisch, und nach zwanzig Minuten, die wir mit einem spannenden Mikado-Spiel verbracht hatten, aßen wir genüsslich die knusprige Salami Pizza und schlürften dazu das süße Malzbier. Auf Besteck hatten wir verzichtet und auch sonst auf jegliche Tischmanieren.
Paul-Hendrik sprach mit vollem Mund: „Das lieb ich so an dir, Opa.“
Ebenso mit vollem Mund fragte ich ihn: „Was liebst du an mir?“
„Dass du dich nicht benehmen kannst!“
Stirnrunzelnd nahm ich sein Kompliment entgegen und wechselte das Thema: „Du hattest doch eine politische Frage. Also frage!“, würgte ich raus, als ich runtergeschluckt hatte.
Er präzisierte: „Ich meine, die Frage ist eher philosophischer Natur.“
Ich kannte schon seine Angewohnheit, mit seiner hochgestochenen Sprache ein wenig anzugeben. Und ich wunderte mich, von wem er das wohl hatte.
Ohne weitere Einleitung schoss es aus ihm heraus: „Ist Putin gut oder böse?“
Ich schob mir ein großes Stück Salami Pizza in den Mund, goss Malzbier nach, vermengte die Masse und schluckte sie geräuschvoll runter. Die so gewonnene Zeit nutzte ich, um nachzudenken. Dann hub ich an, in einem breiteren Redebeitrag meinerseits die Schwierigkeit seiner Frage zu beleuchten. Denn eine einfache Antwort wäre doch weiß Gott zu primitiv gewesen und unter meiner Würde: „Lieber Paul-Hendrik, die allgemeine Meinung hier in Europa ist, dass Putin böse sei. Wenn du also wissen willst, was die Allgemeinheit über Putin denkt, dann ist er böse.“
Paul-Hendrik gurgelte mit einem Schluck Malzbier seine Salami Pizza hinunter und ließ nicht locker: „Die allgemeine Meinung kenn ich schon. Aber was meinst du, Opa?“
Während ich überlegte, ob ich als Nachspeise zwei Becher Schoko-Sahne-Pudding spendieren sollte, entgegnete ich ihm: „Für mich ist es schwer zu sagen, ob Herr Putin gut oder böse ist. Denn ich kenne Herrn Putin nicht. Ich habe ihn noch nie persönlich getroffen und auch seine politischen Schriften sind mir nicht alle bekannt. Auch habe ich Interviews mit ihm nie vollständig verfolgt und bin nur auf Übersetzungen angewiesen, denn meine Russisch Kenntnisse sind kaum bemerkenswert ausgeprägt. Ich kann mir persönlich also keine Meinung über Herrn Putin bilden. Denn ich kann ja nicht einfach jemanden böse finden, nur weil ganz Europa ihn böse findet.“
„Aber er hat doch den Krieg angefangen“, posaunte mir der kleine Naseweis entgegen. „Und damit hat er doch die Grenze überschritten.“
Ich beschloss, den Schoko-Sahne-Pudding nicht zu servieren. Sondern gestand meine Inkompetenz ein, indem ich sagte: „Also, ich muss dir ehrlich sagen, ich bin nicht genau informiert, welche Abmachungen von wem mit wem getroffen wurden. Welche Ansprüche von wem an wen wann erhoben wurden. Und wer welche Abmachungen gebrochen hat. Die ganze vertragliche Situation ist mir unklar. Und so lange ich nicht klipp und klar Bescheid weiß, bilde ich mir keine negative Meinung.“
Da klingelte es an der Tür. Vor mir stand Evelyn-Marie mit unveränderter Frisur, raunte mir im Vorbeigehen zu: „Beim Friseur war’s zu voll“, nahm Paul-Hendrik, der gerade an meiner Malzbierflasche nuckelte, an die Hand und sagte: „Komm, wir fahren nach Hause.“ Dann fragte sie: „Hat dir der Opa alles erklärt?“
Paul-Hendrik schwieg. Evelyn-Marie schob nach: „Dann bedanke dich jetzt artig bei ihm.“
Paul-Hendrik sah mir in die Augen und sagte: „Danke für nix!“
Ich fand das sehr frech. Denn hatte ich mich nicht bemüht, ihn vor Falschmeldungen zu schützen? Sich in einen Sachverhalt objektiv einzuarbeiten, indem beide Seiten gehört wurden? Na, mir sollte es recht sein. Paul-Hendrik würde, wenn er ein aktiv mitdenkender Bürger werden wollte, noch einiges vor sich haben. Meinen Schoko-Sahne-Pudding für heute jedoch hatte er verspielt!
Rache ist süß! 

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Nichts ist wirklich weder gut noch böse; unser Denken macht es erst dazu (=abgeschrieben). Ich wüsste auch keine Antwort darauf und hab` mich köstlich amüsiert am Drumherum.

  2. Unser Direktor des Mädcheninternats Reichersbeuern, Max Rill, hat noch bis zu unserem Abitur immer, wenn wir zu spät kamen oder ihm sonst irgend etwas nicht gefiel, unser Ohrläppchen zwischen seinen beiden Fingern gedreht und gerufen:‘ „du böses böses Mädchen“ Das hat höllisch weh getan.
    Also er wusste anscheinend, was gut oder böse ist. Ich weiss es auch nicht.

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