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4. So tun, als ob man lernt

Wieder einmal saßen der Letzte Lehrer und seine wenigen Schüler zusammen. Gemeinsam hatten sie einen Spaziergang durch die Vorstadt gemacht. Da waren sie an einer Schule vorbeigekommen, in der gerade Unterricht stattfand. Durch das offene Fenster hatten sie Lehrer und Schüler sprechen hören. Auf einem nahegelegenen Rasen hatten sie sich dann später in den Kreis gesetzt, um miteinander zu sprechen. Nun saßen sie im Kreis und der Letzte Lehrer wartete auf die begeistert gestellte Frage, die er gerne beantworten wollte.

Da fragte eine Schülerin: „Was bedeutet eigentlich wirkliches Lernen?“ Der Letzte Lehrer freute sich über die Frage und antwortete: „Jeder Mensch weiß im Grunde seines Herzens, dass wir hier auf der Erde sind, um zu lernen. Unser Sinn ist es also, uns lernend immer weiter zu vervollkommnen. Doch viele Menschen tun so, als ob sie hier nur zum Spaß seien, und zelebrieren mit großer Freude ihre eigene Unbelehrbarkeit. Dummheit kann sich ändern. Unbelehrbarkeit nie. Wenn wir also davon ausgehen, dass wir Menschen auf diesem herrlichen Planeten Erde sind, um zu lernen und unser Bewusstsein weiterzuentwickeln, dann stellt sich natürlich sofort die Frage, wie man wirklich lernt. Um diese Frage in ihrer tiefen Bedeutung zu klären, ist es angebracht, erst einmal aufzuzeigen, wie und wo man nicht lernt: In der Schule! Da uns die Lehrer in unserer Schulzeit mit unnötigem Wissen und ihren peinlichen Machtspielen belästigt haben, haben wir uns als Abwehrmaßnahme etwas Furchtbares anerzogen: Wir haben gelernt so zu tun, als ob wir lernten, und wir haben anschließend gelernt so zu tun, als ob wir wüssten. Allein schon der Zwang, dass junge Menschen in der Schule tagtäglich im Sitzen lernen müssen, ist völlig unnatürlich und zwingt die Schüler langfristig, inkompetente Kopfmenschen zu werden. Wirkliches Lernen aber muss den Geist, den Körper und die Gefühle erfassen und ausbilden. Schüler brauchen Erfahrungsspielräume und auf keinen Fall intellektuelles Wissen, das sie eingetrichtert bekommen.“ Die Schüler fanden eigentlich, dass die üblichen Schulen so schlecht doch gar nicht seien und dass der Letzte Lehrer ein wenig übertrieben habe. Dabei setzten sie aber ein Gesicht auf, das Zustimmung ausdrücken sollte. Genau so, wie sie es früher in der Schule gemacht hatten.

aus: Johannes Galli – Der Letzte Lehrer – 108 Momente der Weisheit | Kurzgeschichten | Freiburg 2009 | S. 19f.  | © Galli Verlag e.V.

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