Bewegter Block
Eines Tages im Frühjahr 1985 hatte es mich in den hohen Norden unserer Republik verschlagen. Grund war die Einladung zu einem Wochenendworkshop in Kiel. Der Titel des Workshops war: Entdecke den Clown in dir! Über zwanzig Teilnehmer hatten sich im Erdgeschoss eines Postverwaltungsgebäudes getroffen. Am Wochenende arbeitete dort niemand und wir hatten die ganze Eingangshalle für uns. Eine kräftige Musikanlage war aufgebaut worden, und schon konnte es losgehen!
Es ging auch am Anfang alles gut.
Vielleicht muss ich an dieser Stelle erklären, was ich damit meine, wenn ich schreibe: Es ging alles gut. Also, es ist so, wenn ein Mensch den Rollenwechsel beherrscht, dann hört er konzentriert meiner Anordnung zu, macht, was ich sage, setzt die rote Nase auf und lässt dann auf der Bühne gut geschützt seinen inneren Wahnsinn nach außen treten. Wenn ich dann das Ende der Szene verkünde, dann hält er inne, nimmt die Nase ab, schaltet wieder um auf die Alltagsrolle des wissbegierigen Schülers und hört wieder aufmerksam und konzentriert zu. Wenn also in einem Workshop bewusst auf diese Rollen im rechten Moment umgeschaltet wird, dann nenne ich das: Es geht alles gut.
Nach einer solchen Einleitung erwartet doch jede Leserin und jeder Leser, dass nicht alles gut ging.
Warum die Leser enttäuschen?
Es ging nicht alles gut.
Bevor ich mit der konkreten Schilderung beginne, möchte ich hier noch einen tiefenpsychologischen Blick auf die männliche Psyche vorschalten, damit das Ereignis während des Workshops besser verständlich wird. Männer haben Angst, dass bei ihnen im freien Spiel eine nicht mehr kontrollierbare Aggression von innen wuchtig nach außen drängt und dort nicht mehr vom eigenen Bewusstsein gesteuert werden kann und üblen und vor allem kostspieligen Schaden anrichtet. Männer, vor allem junge, haben einen enormen Tatendrang. Dieser wird im Erziehungsplan der völlig veralteten Schulsysteme überhaupt nicht berücksichtigt. So müssen kraftstrotzende junge Männer in der Schule sitzen und sitzen und sitzen. Zuhören und zuhören und zuhören. Sanft und beherrscht dreinschauen und sanft und beherrscht dreinschauen und sanft und beherrscht dreinschauen. Dass sie dann im Leben bei der geringsten Provokation durchknallen, wen wundert’s?
Nun zurück zu meinem Clownworkshop in Kiel.
Der Teilnehmer, der mir Schwierigkeiten bereitete, war ein solcher junger Mann wie eben bereits beschrieben. Kaum zwanzig, weißhäutig, dicklich und verpickelt. Nicht unsympathisch, aber eben überhaupt nicht attraktiv und schon gar nicht bei sich. Sicherlich war sein Charakter ausreichend ausgestattet mit wild wuchernden sexuellen Phantasien. Zum frei improvisierenden Clownspiel auf der Bühne hatte er in ziemlicher Selbstüberschätzung eine etwa gleichaltrige sehr hübsche junge Dame gewählt. Es zahlt sich nie aus, wenn man Bühnenspiel wählt, um sich ans andere Geschlecht heranzupirschen. Auf der Bühne sollte man dem Spaß, der Lust und der Freiheit frönen und sich nicht durch irreale Partnerwahl unter Druck setzen, so wie man es leider gemeinhin im Leben macht.
Er aber kannte meinen weisen Lebensratschlag nicht und auch wenn er ihn gekannt hätte, weiß ich nicht, ob er ihm gefolgt wäre. Eher nicht! Also begann das Spiel!
In einer wirklich lustigen Clownimprovisation ließ sie ihn immer wieder aufs Allerlustigste abblitzen. Was auch immer er auf der Bühne als tumber Clown versuchte, schnell durchschaute sie seinen Plan und durchkreuzte ihn souverän.
Dann war das Spiel vorbei.
Es wäre lustig und für ihn enorm hilfreich gewesen, wenn er das Spielende im Inneren akzeptiert hätte. Aber ich sah an seinem flackernden Blick, dass mit ihm etwas nicht stimmte.
Als das Spiel auf der Bühne zu Ende war, nahmen sie beide ihre Nasen ab, aber nur sie fand wieder zurück in ihre ursprüngliche Rolle.
Er nicht. Er überhaupt nicht. Er brachte kaum die rote Clownnase herunter, so verwirrt war er. Er atmete schwer. Dann schrie er auf, schluchzte, heulte und wollte um sich schlagen, besann sich aber dann eines Besseren oder Schlechteren, je nachdem, wie man das im Folgenden beurteilen will. Er schlug nicht zu. Zwar war er gezwungen, seine Aggression herauszulassen, weil sie sich enorm aufgeladen hatte, aber er wollte diese Aggression nicht gegen andere richten. Also tat er das Einzige, was ihm dann aus seinem Blickwinkel an realistischen Möglichkeiten noch übrigblieb: Er richtete die Aggression gegen sich selbst. Er biss sich in die Hand. Und wie! Nun war ich als das gefragt, was ich nie und nimmer sein wollte und will: Therapeut! Da ich zum Glück keinerlei therapeutische Ausbildung hatte, war ich frei und unbelastet und konnte meinen spontanen Impulsen folgen. Und diese sagten mir, dass diesem in sich selbst vollständig verkrampften Burschen schlicht und einfach Bewegung fehlte.
Er hatte sich zwar schmerzhaft in sich selbst verbissen, aber nur, weil er sich der Situation nicht beugen wollte. Er war im Block. Also dachte es in mir: Bewegung muss her! Gedanken in einer solchen Situation fordern als Konsequenz eine Tat. Also: Gedacht, getan!
Ich nahm ihn ohne weiter nachzudenken bei seiner freien Hand. Den anderen rief ich noch schnell zu, sie sollten eine spontane Tanzrunde einlegen, was diese sogleich taten und auf Teufel komm raus tanzten, so dass ich mich in Ruhe meinem jungen, völlig überforderten männlichen Menschen widmen konnte.
Schnell führte ich ihn zu einer Treppe und hoppla liefen wir die Treppe hoch ins erste Stockwerk … und dann hoppla die Treppe hoch ins zweite Stockwerk … und dann hoppla die Treppe hoch ins dritte Stockwerk … und immer weiter. Er kam ins Schwitzen und geriet langsam in Atemnot. Kein Wunder, denn er hatte ja die Hand im Mund. Also tat er das einzig Vernünftige: Er nahm die Hand aus dem Mund. Ich sah auf dem Handrücken den blutunterlaufenen Abdruck seines vorderen Oberkiefers und beschloss, noch einige Stockwerke draufzulegen … und hoppla ging es weiter rauf und hoppla ging es von ganz oben hoppla wieder runter … Als wir wieder unten bei den anderen ankamen, war er zwar völlig außer Atem, aber psychisch wiederhergestellt.
Was lernen wir daraus?
Alles Leben will Balance! Wenn also einer in seinem inneren Block festhängt, wenn einer sich also in eine Muskelstarre begibt, um das pulsierende Leben nicht zuzulassen, dann fordern wir ihn so lange zur Bewegung auf, bis bewegende Anspannung und ruhende Entspannung sich wieder die Waage halten.
eigentlich ein Idealfall, den muss man gar nicht mehr motivieren; er hätte sich die Zähne ausgebissen am Granit und anfänglich auf die Hand gehauen. Wenn das Umfeld stimmt, dann blüht der Mensch auf.
Eigentlich würde ich jetzt gerne vor lauter Begeisterung applaudieren, einhändig sieht das allerdings wohl etwas bescheuert aus…
Sollt’s lieber erstmal fetzen lassen.
Hab Dank Johannes, du triffst mich oft sehr hart, an der richtigen Stelle, zur richtigen Zeit.
Ganz nach dem Motto: Wenn sich was bewegt, dann bewegt sich was in dir!