Der Kopfsprung
Mein Vater war mein erster Motivationstrainer. Er war der Meinung, dass sein Junge früh mit den Schwierigkeiten des Lebens vertraut gemacht werden müsste, um wie er sagte „nach und nach ein richtiger Mann zu werden.“
Mein von ihm auferlegtes Motivationstraining begann er in meinem zarten Alter von achteinhalb Jahren. Sein von ihm abgestecktes Ziel für mich war es, einen Kopfsprung vom Dreimeterbrett elegant zu präsentieren.
Als Ort legte er das Freibad fest, das von der Kaserne in Penzing für die Familien der angestellten Soldaten zur Verfügung gestellt wurde.
Das Schwimmbecken war türkis ausgemalt. Das Wasser war klar und funkelte also wie ein riesengroßer Türkis. Ich stand auf dem Dreimeterbrett und starrte hinunter auf die gleißende Wasseroberfläche. Sofort wurde mir klar, dass das Wasser mich gar nicht so türkis freundlich anschaute, wie ich erst gedacht hatte, sondern mir fiel auf, dass es immer härter, kälter und böser schaute. Da wusste ich auf einmal: Es wollte mich schlagen. Es lauerte da unten darauf, dass ich hineinspringen würde, und dann würde es sich hart machen und mir auf diese Weise brutal in die Fresse schlagen.
Wieso sollte ich mich aber in Gefahr begeben, wo man, einem Sprichwort folgend, doch eigentlich nur darin umkommt?
Ursache für meinen Entschluss, mich aus der unendlichen Höhe von drei Metern kopfüber ins böse zuschlagende Wasser zu werfen, war wie schon angedeutet mein Vater. Dieser ausgefuchste Pädagoge hatte mir für diese Wahnsinns-Männlichkeits-Initiations-Tat, nämlich ohne Netz und doppelten Boden aus drei Metern Höhe ins Wasser zu springen, 50 Pfennig geboten.
50 Pfennig bedeuteten für mich Achteinhalbjährigen damals ein Feuerwerk der süßen Seligkeiten wie zum Beispiel: Nussecke, Marzipanschnecke und Kokosrolle.
Kurzum, 50 Pfennige waren ein enormer Anreiz gewesen, dem ich nicht hatte widerstehen können. Doch gleichgültig, wie konkret ich mir meinen Kuchenlohn jetzt auch ausmalte, er wirkte kein bisschen motivierend. Zwar hatte mich Vaters Lohn hoch auf das Sprungbrett getrieben, aber zum Sprung reichte diese Form der Motivation nicht. Noch hatte ich die für 50 Pfennig notwendige Gegenleistung, nämlich den „Köpfer vom Dreier“, nicht erbracht.
Das Wasser funkelte nun wie eingangs beschrieben zu allem Überfluss immer böser und machte mir unerbittlich klar, dass es mich schlagen würde, wenn ich wagen sollte, seine Oberfläche zu penetrieren.
Mein Vater winkte mir aufmunternd, ja regelrecht auffordernd, zu. Denn er wurde ungeduldig.
Er saß rechterhand mit Freunden und Kollegen auf dem Rasen des Kasernenschwimmbades des Fliegerhorstes Penzing, seiner Arbeitsstelle, denn er war Fluglehrer. Nun hatte er einmal mit seinem Sprössling ein wenig angeben wollen. Aber das klappte nicht so recht.
Angstvoll stand ich in drei Meter Höhe mir selbst im Weg herum.
Die Hände wie zum Gebet aneinandergepresst, beugte ich mich über den Sprungbrettrand und zeigte mit meinen solchermaßen zugespitzt betenden Händen in Richtung Wasser. Ich wünschte mir drei Meter lange Arme, die den Fall hätten abfangen sollen.
Immer wieder, in regelmäßig wiederkehrenden Schüben, drückte mir die Angst vor den Schlägen des Wassers meinen jungen Brustkorb zusammen.
„Spring, oder mach Platz!“, brüllten einige junge Männer hinter mir, die ebenfalls auf den Turm geklettert waren und nun freie Bahn für ihre hemmungslose und angstfrei zur Verfügung stehende Kraft beanspruchten.
Wie ein geprügelter Hund schlich ich vom Brettrand zurück, presste mich ans Geländer und ließ die kraftstrotzenden Burschen mit schwarzen, nassen Haaren, lachenden Gesichtern und brauner Haut, von der das Wasser abperlte, vorbei.
Ohne zu zögern, sprangen diese mutigen Kerle in die Tiefe, als ob das Wasser nicht schlagen könnte. Und das Brett wippte heftig – auch dann noch, als die Springer schon souverän kopfüber ins Wasser eingetaucht waren.
Sobald das Brett wieder frei war, schlich ich sofort wieder nach vorne, nahm meine erbärmliche Haltung wieder ein, die den Sprung vorwegnehmen sollte, aber doch verhinderte, und saugte mich mit dem Blick an der Fußmatte fest, die über das Sprungbrett gerollt war, um ein Ausrutschen auf dem glatten Holzbrett zu verhindern. Jede Faser dieser Matte hat sich für immer in mein Gedächtnis eingeprägt.
Mein Vater rief.
Froh über jede Ablenkung erhob ich mich aus meiner Springverkrampfung und blickte zu ihm. Er machte mir ein Zeichen, ich solle nun endlich springen. Er war ungeduldig geworden, denn meine Mannesmutprobe geriet zu einer Lachnummer.
Ich versuchte mich durch den intensiv vorgestellten Geschmack des zu erwartenden Kuchens zu motivieren, aber das klappte nicht. Im Gegenteil, ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass mich diese vorgezogene Belohnung nur unnötig Kraft kostete. Ich brauchte keine zuckersüßen Kuchenträume, sondern einen klaren Handlungsimpuls, der mich zum Springen brachte.
Wieder rief mein Vater.
Ungeduldig winkte er mir und forderte mich gestisch klar verständlich zum Sprung auf. Seine Kollegen blickten erst auf ihn und dann auf mich, dann blickten sie wieder auf ihn, und dann blickte jeder irgendwo hin und nicht mehr auf meinen Vater und nicht mehr auf mich.
Der Spannungsbogen war von mir deutlich überspannt worden.
Zu langes Zögern lässt die Spannung sinken. Das galt aber nur für die Zuschauer, die, wie gesagt, inzwischen gar nicht mehr zuschauten. Nicht aber für mich. In mir war die Spannung gestiegen. Aus den tiefsten Tiefen meines jungen Seins war ein Wille auferstanden. Dieser Wille war vollständig unabhängig von kuchenträchtiger Belohnung, Heischen um Vaters Anerkennung und zuschauerfreundlicher Springinszenierung in mir aufgestanden. Da hatte sich in mir etwas hervorgearbeitet, das unabhängig von den scheinbar motivierenden Faktoren rings um mich springen wollte.
Plötzlich wusste ich, dass ich springen würde.
Der Sprung war meine ureigene Sache geworden. Ich wollte mich ins Leben werfen und wollte eine Erfahrung machen mit Haut und Haar. Mein Sprung war ein Gleichnis geworden. Würde ich jetzt ins Wasser springen, würde es mir auch gelingen, ins Leben zu springen.
Diesen faszinierenden Moment will ich genau fassen. Zwar hatte Vaters finanzieller Anreiz und die dadurch in Aussicht gestellten süßen Kuchenteile mich an den Rand des Sprungbrettes geführt, aber den Sprung selbst konnten sie nicht bewirken.
Vielleicht wird hier die eine Leserin oder der andere Leser ungeduldig werden und fragen: „Warum springt er nicht einfach oder lässt es sein? Was soll dieses ganze Gelaber?“
Mich aber interessiert dieser Wendepunkt hin zur Entscheidung.
Das Zauberwort heißt: Motivation.
Was bewirkte damals, dass ich dann doch sprang?
Das Bild des Kopfsprungs war plötzlich in mich eingedrungen, auch wenn es noch nicht vollständig und konkret war. Der Wille hatte es in meinen Geist geschleudert. Tief in mir wusste etwas, dass ich diesen Sprung tun musste, um ein Zeichen zu setzen, das bedeutete, dass ich in der Lage sein würde, mich durch Sprünge Stufe für Stufe weiterzuentwickeln. Eigenes Wachstum ist die höchste Motivation!
Nun half auch ein Gegenkrampfen meines Körpers nichts mehr. Der Wille zum Sprung in die eigene Erfahrung war stärker geworden.
Es wurde still im Schwimmbad.
Mein Wille zu springen sprang auf alle, die mir noch zusahen, über, und mit einem Male wussten alle, dass ich es tun würde.
Mein Geist hatte das Bild geformt, das mich in Bewegung setzen und dann hinabziehen sollte.
Zwar blockierte mein Körper die Anstrengung des Geistes, so gut er konnte, aber seine Kraft zum Widerstand ließ langsam nach. In mir tobte der Kampf: Würde sich mein forscher Geist durchsetzen oder mein angstvolles Gefühl? Doch plötzlich wurde der Geist immer beherrschender.
Und dann sprang ich.
Für einen Moment war ich ohne klare Kommandos von Herz, Körper, Geist, oder was mich sonst noch alles beherrschte, denn alles war in heftigste Bewegung geraten.
„Herr, dein Wille geschehe!“, war mein letzter Gedanke, und dann geschah sein Wille.
Ich fand mich kopfüber fallend wieder.
Das Wasser raste auf mich zu und schrie zornig funkelnd auf. Rückkehr, die ich sofort geistesschwach in Erwägung zog, war aufgrund verschiedener und durchaus bewährter Schwerkraftgesetze nicht mehr möglich.
Dann schlug das Wasser zu.
Der Schlag traf meinen Kopf.
Ich hatte meine Arme etwas zu weit auseinandergehalten. Mein Kopf prallte hart auf das Wasser, und Blitze zuckten über meine Kopfhaut. Doch unabhängig von dem, was da außen zuckte, in mir zuckte Freude auf.
Ich hatte es geschafft.
Zwar war ich, wie ich von Anfang an vermutet hatte, geschlagen worden, und zwar voll auf den Kopf, aber ich hatte es überlebt.
Meine Angst war besiegt, mehr noch, ich hatte erfahren, dass man sich selbst zu etwas bewegen kann.
Als ich mit brummender Birne aus dem eigenen Wasserstrudel auftauchte, schwamm ich hurtig zur Leiter, ich wollte raus. Als ich aus dem Wasser stieg, spürte ich, dass ich noch zitterte und mir das Wasser in Strömen vom Körper rann und bei jedem Schritt Pfützen auf dem heißen Betonboden bildete. Genau in diesem Moment wurde mir bewusst: Ich konnte mich selbst in Bewegung setzen, wenn ich vom Ziel ergriffen war.
Stolz und keine Pfützen mehr bildend, sondern nur noch nasse Fußabdrücke auf dem Boden hinterlassend, schritt ich Richtung Vater und dessen Freunde. Die waren ins Gespräch vertieft und bemerkten mich nicht. Erneut wurde mir deutlich, dass ich den Bogen wohl überspannt hatte. Den Moment, in dem ich meinen Sprung optimal hätte „verkaufen“ können, hatte ich verpasst. Ich war gesprungen, als es kaum jemand gesehen hatte, und dadurch hatte ich selbst meinen großen Auftritt verpatzt. Als mein Vater gewinkt hatte, hätte ich springen sollen, aber ich konnte erst springen, als mein Geist das Bild meines Sprunges zur Tat freigegeben hatte. So musste ich auf männliche Anerkennung verzichten, allerdings hatte ich auf diese Weise den Schlüssel zur Motivation entdeckt: Das Bild der zu tuenden Tat eindringen lassen, und dann, wenn das Herz, also will sagen, die Gefühle dieses Bild als ein gleichnishaftes begreifen und freudig in immer bunteren Farben ausmalen, gibt es nur noch eins zu tun, nämlich nichts! Was dann geschieht, geschieht, weil es geschehen muss.
Wir sehen also, Motivation braucht einen klaren, zielgerichteten Geist, farbige Gefühle und einen lockeren Körper, der tut, was getan werden muss.
Für Motivationsforscher hat sich an dieser Stelle die Lektüre dieses Textes bereits mehr als gelohnt.
Damals allerdings hatte ich all das, was hier umständlich beschrieben wurde, zwar gerade erlebt, aber noch nicht ins Bewusstsein gehoben.
Seitlich stand ich neben Vater, der meine Belohnung aus seinem Geldbeutel fischte und mir trotz allem freundlich überreichte.
Ich freute mich, aber das Wichtigste für mich war: Ich hatte herausgefunden, wie man sich hineinwirft ins Leben. Ich hatte erfahren, wie man sich kopfüber in eine Sache hineinschmeißt, Schläge erhält, wie man sprudelnd die Orientierung verliert, wie man im Wirbel das Licht entdeckt und plötzlich weiß, wo oben und unten ist, nach oben schwimmt, dann die lichtspiegelnde Wasseroberfläche durchbricht und auftaucht und sich sehnsüchtig hineinatmet ins Licht der eigenen Kraft.
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