Der Klassenclown
Auf dem langen Weg, ein wirklicher Clown zu werden, möchte ich eine weitere Geschichte präsentieren. Diesmal suche ich Spuren meiner Clownwerdung in der Zeit meiner Pubertät.
Der Klassenclown
Die Würfel waren gefallen. Wir würden nach neun Jahren Aufenthalt in der Fremde vom kleinen Dorf Penzing bei Landsberg am Lech wieder zurück in mein ebenso kleines Heimatdorf Erbach im Rheingau ziehen.
Also zogen wir um, sozusagen wieder zurück!
Ich war fünfzehn und bezüglich des Umzugs natürlich nicht gefragt worden, so stimmte ich also auch in diesem Falle, wie bei allen elterlichen Entscheidungen, ungefragt zu.
Da gerade Kurzschuljahr war, das heißt, die Bundesländer dieses unseres Landes hatten beschlossen, dass das Schuljahr einheitlich nach den Sommerferien und nicht nach den Osterferien neu beginnt, stellte sich für mich die Frage, ob ich eine Klasse aufsteigen oder eine zurückfallen sollte.
Dr. Hagenow, ein hagerer älterer Herr mit starker Brille und schlohweißen Haaren im dezenten grauen Anzug war Direktor des für mich zuständigen Rheingau-Gymnasiums in Geisenheim am Rhein. Beim Vorstellungsgespräch sah er mich streng an und raunzte dann entschlussfreudig zu meinem Vater hinüber: „Die Bayern haben ein hohes Schulniveau. Er soll ein Jahr überspringen. Ab morgen geht er in die 11b.“
Also stand ich am nächsten Morgen in dem, wie es sich gehörte, nach Schulhaus riechenden Schulhaus. Meine Klasse fand ich schnell im ersten Stock. Dort stand ich dann irgendwo im Klassenzimmer verlegen herum und blickte interessiert überall hin, wo die Augen der neuen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden nicht waren.
Dr. Hecker, der Lehrer für Geschichte und Gemeinschaftskunde, hatte ein stark fliehendes Kinn und die Aufgabe, mich der Klassengemeinschaft vorzustellen. Dieser Aufgabe kam er nur mäßig interessiert nach. Die Klasse sah der Tatsache, dass ein Neuer in die Gemeinschaft integriert werden sollte, absolut teilnahmslos entgegen. Alle in der 11b waren ein Jahr älter als ich und mindestens zwei bis drei Jahre reifer. Was da in den nächsten Unterrichtsstunden auf mich niederprasselte, war sehr herb. Alles, was die sympathischen Lehrer mir vermitteln wollten, verstand ich nicht. Das wäre nun auch weiter nicht schlimm gewesen, denn damit kam ich gut zurecht, dass mein Leben scheinbar aus Situationen bestand, in denen ich nichts verstand. Aber schräg vorne saß ein Mädchen, das war so schön und lachte so süß, dass ich sie nicht betrachten konnte, ohne die Luft anzuhalten.
Oh, seliges Versinken!
Stundenlang konnte ich dasitzen und ihre kastanienbraun glänzenden Haare bewundern oder ihren Nacken, den sie immer aufrecht hielt, vor allem aber bewunderte ich ihre Beine, die mir wie die fleischgewordene Harmonielehre vorkamen. Sie einfach nur anzublicken war höchstes Glück auf Erden.
Ich weiß nicht, was da so selig macht. Man sieht ein Mädchen und findet alles an ihr perfekt. So, als sei es Sinn und Zweck auf Erden, dass es perfekte Menschen gäbe, an denen sich die anderen orientieren sollten. Sie traf etwas in mir, das in meinem Inneren Resonanz hervorrief. Oder noch etwas komplizierter, aber vielleicht treffender ausgedrückt: Innen war ich sie und außen war ich ich. Immer, wenn ich sie sah, war ich innen, und immer, wenn ich sie nicht sah, war ich außen.
Ich hoffe, es ist mir gelungen, die Wucht meines jugendlichen Verliebtseins in Worte zu kleiden.
Sie wohnte im gleichen Ort wie ich. Dort allerdings wohnten wir so weit nur möglich auseinander. Sie am Dorfanfang, ich am Ende. Natürlich könnte ich auch sagen umgekehrt, aber bezüglich des Schulortes war es so, denn wann immer ich morgens um fünf nach sieben in den Schulbus stieg, war sie schon da.
Ihr Platz war ganz hinten in der Mitte, sodass ich bis vorne ihre herrlich übereinandergeschlagenen Beine gut sehen konnte, denn mein Platz war direkt hinter dem Fahrer.
Ich fürchtete, in ihrer Nähe zu zerfließen, und in einem solchen Zustand würde ich dann wohl nicht mehr Herr meiner Sinne sein, der ich sowieso nur bedingt war. Wann immer ich mich „zufällig“ umdrehte, sah ich ihre kastanienbraun glänzenden Haare, die einen Schleier bildeten, hinter dem sie, tief in ihre Lektüre versunken, unerreichbar geworden war.
Später erfuhr ich von ihr, dass sie sich morgens im Bus intensiv auf die Fächer des Tages vorbereitete. Auf solche Gedanken war ich mein Lebtag nie gekommen.
Sie war absolut spitze in der Schule und sah aus wie eine Göttin, der Herr hatte also sein Füllhorn über sie ausgeschüttet. Von allem hatte sie das Beste bekommen. Ohne größere Anstrengung bildete ich in allen Bereichen einen klaren Gegensatz zu ihr. Wie sollte ich es unter solchen Bedingungen schaffen, ihre Aufmerksamkeit zu erringen?
Natürlich hatte sie etwas bemerkt, denn meine Blicke saugten sich immer häufiger an ihr fest.
Einmal in Erdkunde, der Lehrer, an dessen Gesicht, Gestalt und Anzugsfarbe ich mich nicht mehr erinnern kann, der aber hellgraue Schuhe trug, versuchte uns unwillig für die Probleme des Kupferabbaus in Chile zu interessieren, hatte sie mich angelächelt.
Mein Gott, was für ein Gefühl, als sich ihr dunkler Blick in meine Seele brannte! Direkt im Anschluss an diesen seelenhaften Blick taumelte mir das Blut durch den Körper und nach einem kurzen Schwindel strömte endlose Kraft durch mich und alle meine Glieder.
Oh Gott, welch einen Kraftzuwachs bedeutet es verliebt, zu sein!
Aber bei diesem Lächeln ihrerseits war es geblieben. Das war mir selbstverständlich zu wenig!
Es musste mir unbedingt gelingen, sie zu beeindrucken. Koste es, was es wolle! Sie musste erfahren, was für ein toller Kerl ich war! Nur ich war für sie bestimmt! Nur ich war stark, schön und klug und… Spätestens beim letzten Adjektiv verließ mich allerdings der doch recht künstlich aufrechterhaltene Glaube an mich selbst, und meine Hoffnung, Marion beeindrucken zu können, brach ohne größeren Widerstand in sich zusammen. Normalerweise gibt es in einem Klassenverband für jeden Klassenteilnehmer immer und überall Möglichkeiten, sich zu profilieren. Aber in dieser 11b waren alle Profilierungsabteilungen von Größeren, Klügeren, Schöneren, Intelligenteren, Redebegabteren und Sportlicheren besetzt.
In Mathe war es Leo, der zwar als Siebzehnjähriger mit glatt über den Kopf geklebten Haaren bereits gegen eine Glatze ankämpfte, aber jedes Integral entschlüsselte, als wäre es sein eigenes.
Da gab es Rudi, der mit siebzehn in Deutsch schon so abgeklärt wie mit siebzig sprach und Aufsätze schrieb, in den Sartre Hegel mit Argumenten von Plato in die Enge trieb. In Latein war Marion selbst die Beste.
Aber auch im außerschulfachlichen Bereich konnte ich mir keine Lorbeeren verdienen: Jobi hatte lange, schwarze Haare, sah aus wie George Harrison von den Beatles, war Bandleader der „Facts“ und hatte schon allerlei Erfahrung mit Haschisch und LSD, heute würde man sagen, er war herrlich durchgeknallt. Knut mit Stupsnase, Prinz-Eisenherz-Haarschnitt und zu viel Speck um die Hüften war so forsch zu den Mädchen, dass er Ulrike schon mal ganz frech den Rock hochgehoben hatte, sodass ich Aussichten ansichtig wurde, die mir die Sprache verschlugen. Hörby war vor allem in Physik und Chemie ein Genie, er wusste und konnte immer alles und außerdem war er Bassist bei den „Facts“ und deren musikalischer Chef. Wegen seiner vielen Pickel auf Stirn und Himmelfahrtsnase hatte er aber Probleme mit den Frauen. Dafür waren in Wilhelm den Schönen alle Mädchen der Klasse (auch sie?) irgendwie heimlich verliebt.
Wo zum Teufel war da Platz für mich? (…)
Atemlos durch den Text gesaust, und neugierig auf die Fortsetzung.
Deine Beobachtungs- und Wiedergabefähigkeit beeindruckt mich immer wieder aufs Neue.
Richtig schöne Beschreibung.