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1. Guten Morgen

Wieder einmal saßen der Letzte Lehrer und seine wenigen Schüler zusammen. Gemeinsam hatten sie beschlossen, früh am Morgen in einem großen Übungsraum schwierige Bewegungsabläufe einzustudieren. Anschließend wollten sie gemeinsam den Frühstückstee einnehmen. Nun saßen sie im Kreis und der Letzte Lehrer wartete auf die begeistert gestellte Frage, die er gerne beantworten wollte.
Freudig, denn er hatte Großes vor, begrüßte der Letzte Lehrer seine Schüler mit einem forschen: „Guten Morgen!“ Da antwortete der erste Schüler: „Guten Morgen!“, daraufhin sagte der zweite Schüler: „Guten Morgen!“, sodann schloss sich der dritte Schüler mit einem fröhlichen „Guten Morgen!“ an. Der vierte Schüler aber unterbrach diese Grußreihenfolge und sagte zu dem dritten Schüler: „Ich weiß nicht, warum du an dritter Stelle ‘Guten Morgen’ sagst, ich denke doch, mir steht es zu, an dritter Stelle ‘Guten Morgen’ zu sagen.“
Da sagte der fünfte Schüler zum vierten Schüler in recht belehrender Art und Weise: „Jetzt hast du vergessen, ‘Guten Morgen’ zu unserem Lehrer zu sagen. Sind wir nicht alle angewiesen und ist es nicht ein Ausdruck von natürlicher Höflichkeit und Respekt, ‘Guten Morgen’ zu unserem Lehrer zu sagen?“
Da sagte der vierte Schüler nun schon ziemlich erbost zum fünften Schüler: „Warum unterbrichst du mich denn, gönnst du mir vielleicht meinen vierten Platz nicht? Ist es nicht etwa so, dass du dich vordrängen wolltest, um unbedingt an vierter Stelle ‘Guten Morgen’ zu sagen?“ Da sagte der Schüler, der an dritter Stelle ‘Guten Morgen’ gesagt hatte: „Was fällt euch eigentlich ein, die festgelegte Reihenfolge des Morgengrußes an unseren Lehrer zu unterbrechen?“ Nachdem dieser Schüler beifallheischend zum Letzten Lehrer geblickt hatte, sprach er etwas pathetisch: „Fahrt doch nun endlich fort, ‘Guten Morgen’ zu sagen.“ Daraufhin sagte der vierte Schüler entrüstet: „Wir lassen uns doch von dir nicht vorschreiben, wann wir ‘Guten Morgen’ sagen sollen. Du bist doch lediglich durch ein Missverständnis auf den dritten Platz in der Morgengrußordnung geraten. Eigentlich steht mir der dritte Platz zu.“ Nachdem der Letzte Lehrer sich das eine Weile lang angehört hatte, sagte er noch einmal leise: „Guten Morgen“ und verschwand.

aus: Johannes Galli – Der Letzte Lehrer – 108 Momente der Weisheit | Kurzgeschichten | Freiburg 2009 | S. 13f.  | © Galli Verlag e.V.

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