Tel. 0163 76 55 881
Skip to content

2. Die vereitelte Bergwanderung

Wieder einmal saßen der Letzte Lehrer und seine wenigen Schüler zusammen. Vor Wochen hatten sie beschlossen, eine Bergwanderung durchzuführen. Drastisch und mit eindrucksvoller theatralischer Untermalung hatte damals der Letzte Lehrer die Gefährlichkeit dieser bevorstehenden Bergwanderung in einer Rede geschildert. Besonders betont hatte er, dass das Wetter unerwartet schnell umschlagen könne. Er hatte die Schüler regelrecht angefleht, sich gut und vorausschauend vorzubereiten. Nun saßen sie im Kreis und der Letzte Lehrer wartete auf die begeistert gestellte Frage, die er gerne beantworten wollte.

Der Letzte Lehrer aber traute seinen Augen nicht. Da saßen einige Schüler vor ihm in Taucheranzügen, trugen Flossen an den Füßen und hatten Taucherbrillen flott an die Stirn geklemmt. Andere Schüler waren in Jogginganzügen und mit Turnschuhen erschienen. Andere Schüler wiederum trugen ein sportliches Trikot, Sonnenbrillen und hatten Fußballschuhe an. Die meisten Schülerinnen hatten Bikinis oder Badeanzüge an und trugen Badetaschen in der Hand.

Der Letzte Lehrer sagte zu einem Schüler, der im Taucheranzug vor ihm saß: „Wir gehen in die Berge. Wieso trägst du eine Taucherausrüstung?“ Der Schüler sagte: „Ich hatte diese Taucherausrüstung gerade zur Hand. Eine Bergsteigerausrüstung zu besorgen wäre mit zu großer Mühe verbunden gewesen.“ Ähnliche Argumente brachten auch die anderen vom Letzten Lehrer befragten Schüler hervor.

Die Ursache für die falsche Ausrüstung war bei allen gleich gewesen: Sie hatten versäumt, sich langfristig sorgfältig auf die Reise vorzubereiten. Dann am letzten Abend vor dem geplanten Reisebeginn hatten sie das genommen, was sie zufällig zur Hand hatten. Der Letzte Lehrer ließ die Schultern fallen und dachte, ehrlich zu sich selbst, es sei wohl noch nicht an der Zeit, in die Berge zu gehen. Die Schüler, die dem Letzten Lehrer die Enttäuschung ansehen konnten, versprachen ihm, das nächste Mal besser vorbereitet zu sein und rechtzeitig mit der Vorbereitung zu beginnen.

Aber der Letzte Lehrer verspürte tiefe Zweifel:  Würden diese Schüler zu einem späteren Zeitpunkt wirklich besser vorbereitet sein?

aus: Johannes Galli – Der Letzte Lehrer – 108 Momente der Weisheit | Kurzgeschichten | Freiburg 2009 | S. 15f.  | © Galli Verlag e.V.

An den Anfang scrollen