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Seelenhusten

Jedes Jahr an Ostern führe ich innerlich einen Prozess durch, der sich an den Ostertagen und ihrer tiefen ursprünglichen Bedeutung orientiert.
Der Gründonnerstag kommt nicht von „grün“, wie viele denken und deshalb unsinniger Weise grüne Speisen zu sich nehmen, sondern von „Greinen“, also Wehklagen. Es ist also der Greindonnerstag. Hier soll man jammern und wehklagen über seine eigenen Charakterfehler.
Karfreitag ist der Tag der Kreuzigung. Karfreitag kommt von Kara / Chara – Althochdeutsch für Klage, Kummer, Trauer. Die heutige Frage ist: Welcher Charakterfehler hat dich ans Kreuz genagelt und was musst du tun, um dein Kreuz auf dich zu nehmen? Und für welche Vision opferst du dich?
Der Karsamstag gilt der Vertiefung der Frage: Für welche Vision opferst du dich? Was ist dein Lebensziel? Wofür lässt du dich kreuzigen?
Und Ostersonntag ist die Auferstehung. Der Seelenanteil in dir übernimmt die Führung. Freude, Hoffnung, Glaube, Liebe.
Am Ostermontag beginnen konkrete Schritte in die neue Vision. Erste kleinere, überschaubare geplante Veränderung. Keine großen Worte mehr, sondern erste kleine Taten.

Dieses Jahr musste ich in meinem Osterprozess an meinen Kindheitsfreund Raimund denken, der mir kürzlich wie folgt heftig in mein Gedächtnis drang:
Neulich plagte mich ein übler Reizhusten. Ich meine so richtig übel. Mit Rasseln in der Brust und einfach erstmal keine Linderung. Sondern immer nur Reiz und Husten und dann Hustenreiz und Husten und dann wieder Reiz und Husten und dann Reizhusten. Ich hatte gerade nichts Besseres zu tun und beschloss, der Sache auf den Seelengrund zu gehen. Und auf dieser Suche dachte ich immer wieder an meinen besten Freund, den ich jemals hatte: Raimund. Und als ich so in meinen Seelentiefen herumkroch, erinnerte ich mich immer wieder daran, wie damals meine junge Brust lebensdurchflutet sich aufblähte und begeistert hineinatmete ins junge, frische, unschuldige und unverbrauchte Leben. Atemstöße wie Gesundbrunnen. Frische Luft für alle Zellen.
Seit Volksschule waren Raimund und ich unzertrennlich. Und auch die ersten Jahre im Gymnasium – bis zur Katastrophe.
Wir waren gut in der Schule. Hausaufgaben waren für uns kein Problem; die erledigten wir schon im Schulbus. Aber dann kamen die Mittage, die endlos herrlichen Mittage! Den Eltern heuchelten wir vor, wir müssten Hausaufgaben machen. Aber die Wirklichkeit sah völlig anders aus. Wir spielten Szenen nach, die wir in der amerikanischen Vorabendserie „Dick und Doof“ gesehen hatten. Ich war Dick und stellte mich noch unbeholfener als Oliver Hardy an, und er war noch viel doofer als Stan Laurel. Wer vermag die Stunden zu zählen, die wir am Boden lagen und nach Luft japsten, weil uns Lachgewitter bis in die tiefsten Ebenen erschütterten? Wir kugelten uns vor unbändigem Lachen und spielten und spielten und spielten …
Und nachdem wir uns im amerikanischen Slapstick-Style bis zur Erschöpfung müde gespielt hatten, schwenkten wir um auf Karl May. Raimund war Winnetou, ich war Old Shatterhand und wir spielten und spielten und spielten …
Was für ein Glück, so jemanden gefunden zu haben.
Und auch bei Mädchen verließ uns unser gemeinsames Glück nie: Wenn der eine verliebt war, war es für uns Ehrensache, dass der andere in das gleiche Mädchen genauso verliebt war. Hier wurde keiner alleine gelassen.
Doch dann ging alles schnell! Zu schnell! Viel zu schnell!
Raimunds Vater war genau wie mein Vater Fluglehrer für Düsenjets. Und eines Tages erfuhr Raimund, dass sein Vater bei einem Übungsflug tödlich abgestürzt war.
Raimunds Mutter, die nun mit ihren beiden Söhnen alleine war, wollte sofort in ihre Heimat zurückziehen. Und innerhalb von zwei Wochen war Raimund weg.
Die paar Mal, die wir uns vor seinem Wegzug noch getroffen hatten, hatten wir nur eins im Sinn gehabt: Wir spielten und spielten und spielten … Wir wollten uns nicht unterkriegen lassen. Nichts sollte uns beweisen können, dass das Leben kein Heidenspaß sei.
Dann war er weg, und ich begriff jetzt erst langsam, dass er für immer weg war. Und wir hatten uns nicht verabschiedet. Wir hatten gesagt, wir würden uns schreiben. Aber welchen Wert haben Briefe von Zwölfjährigen, die sich eigentlich das Leben erspielen wollen? Ich hätte damals jemanden gebraucht, der mir gesagt hätte: „Du hast deinen besten Freund verloren. Einen solchen wirst du nie mehr finden. Die Wucht der Unschuld wirst du nie mehr erleben. Gehe jetzt hin und trauere. Trauere um deinen Freund. Eure Freundschaft war heilig. Ihr habt Blutsbrüderschaft getrunken und seid für immer verbunden. Und wenn der eine krank wird, wird der andere auch krank, um den einen zu heilen. Gibt es andere Gründe, krank zu werden, als um den Freund zu heilen?
So wirst du Nächte lang husten und dich nach ihm sehnen. Und deine Hustenattacken machen dich einsam und du wirst an ihn denken und du wirst dir wünschen, du hättest dich von ihm verabschiedet.“
Der Husten wird schon besser.
Raimund, mach’s gut!

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